Nichts als blaue Flecken

■ Bei Nightball 2000 jagen Blinde und Nicht-Sehende einem Ball hinterher – akustisch motiviert

Es ist dunkel. Irgendwie unheimlich. Eine ganze Weile irre ich nun schon tapsig durch die kleine Schulsporthalle. Meine Unsicherheit steht mir in Form von Schweißperlen ins Gesicht geschrieben. Um mich herum: tumultartige Zustände – ein Meer aus Stimmen und Prellgeräuschen, unterlegt durch Eros Ramazotti oder Rage against the Machine. Einer der vielen Zurufe kommt von links: „Wo seid ihr? Wo ist der Ball? Spielt zu mir. Hierher!“ – oder war es von rechts? Ich antworte: „Wo bin ich?“, werfe die große Kugel aber schließlich dahin, wo ich den Rufer vermute.

Mit jedem weiteren Schritt erwarte ich den Zusammenstoß. Die Unberechenbarkeit der eigenen Aktion läßt den Adrenalinspiegel unweigerlich ansteigen. Plötzlich ein Signal, das mich sehr an den Gong einer Schule erinnert. Pause ist allerdings noch lange nicht. Im Gegenteil: der „Korb“ wurde getroffen – Jubel überall und bei jedem. An wen der Punkt geht, vermag jedoch kaum einer zu sagen. Erst mitfeiern, dann nachfragen.

Das ist „Nightball 2000“. Was sich anhört, wie eine düstere Vision für die Jahrtausendwende, ist eine ernstgemeinte Sportart. Zwei Mannschaften zu je vier Spielern treten gegeneinander an. Das Objekt der Begierde: einer dieser riesigen, aber leicht zu bewegenden Plastikbälle, auf denen man auch gesund sitzen soll. Diesen gilt es in oder vielmehr gegen einen der beiden Körbe zu werfen – unter den Basketballbrettern angebrachte Zielflächen mit Signalknopf.

Hört sich einfach an, doch die Teilnehmer, deren Augen durch schwarze Brillen und Eishockeyhelme mit dunklem Visier verdeckt sind, sehen nichts. Von „dunkel machen“, reden die Aktiven. Chancengleichheit für alle, heißt es. Ein Spiel für Blinde, Sehbehinderte und Nicht-Blinde gleichermaßen, die sich gemeinsam in dieser sportiven Dunkelheit bewegen. Sie ihre Mitspieler nicht sehen, die zwar Armbänder mit Glöckchen tragen, sich aber nur durch rufen und schreien bemerkbar machen können; nicht den Ball, den man in der allgemeinen Orientierungslosigkeit nicht selten einmal gegen den Kopf gedonnert bekommt; und auch nicht das Ziel, das lediglich durch hinter den Brettern installierte Lautsprecher, die als akustischer Wegweiser dienen, zu erahnen ist.

Malte Meyer ist der Trainer und Organisator beim Niendorfer TSV, dem bundesweit ersten Verein, der Nightball 2000 regelmäßig anbietet. „Als Coach muß man in besonders ausweglosen Situationen verbale Hilfestellungen geben, um den Spielfluß beizubehalten“, erklärt Meyer. Und so sehen das dann die Zuschauer in der Halle: Der Ball springt von einer Fußspitze an den Kopf eines zweiten und von dort gegen den Rücken eines dritten. Manchmal laufen auch alle in die Richtung, wo die Kugel gerade nicht ist. Dem Bodycheck mit der Hallenwand wird durch elastische Seile vorgebeugt. „Nichts für schwache Nerven“, meint Rufus Witt, der seit knapp zwei Jahren Nightball betreibt, „paddeln und rudern wurde mir aber irgendwann zu langweilig“.

Der 22jährige erblindete kurz nach der Geburt. Zu viel Sauerstoff wurde in seinen Brutkasten geleitet, was zur Schädigung und später zur völligen Zerstörung seiner Sehkraft führte. Einschränken lassen wolle er sich durch seine Blindheit jedoch nicht. Außerdem würde viel zu häufig die Behinderung und nicht die eigentliche Leistung in den Vordergrund gerückt, verdeutlicht der Pädagogik-Student das Paradeklischee, das dem Blindensport oft anhaftet. Selbstverständliche Tugenden werden immer wieder zu pathologischen Mustern umgedeutet, wie „zwanghafter Leistungswille, um das Handicap psychisch zu kompensieren“ oder „der Sieg über die Behinderung“.

„Nightball bietet ganz einfach für alle eine optimale Möglichkeit, den Körper besser beherrschen zu lernen“, sagt Thomas Gutgesell, einer von mehreren Nicht-Blinden in der Gruppe. Das Spiel macht sich dabei den Umstand zunutze, daß die Dominanz des Seh-Hirns – mehr als zwei Drittel aller Informationen werden über die Augen aufgenommen – zu einer Verkümmerung der übrigen Sinne führt und somit zu einer „Behinderung“ der Nicht-Behinderten.

Karambolagen mit Gegen- oder Mitspielern hört oder spürt man daher im Minutentakt. Mehr als blaue Flecke hat es in der 16jährigen Geschichte dieser Sportart aber noch nicht gegeben. Vor dem unfreiwillig Komischen hingegen ist man nie gefeit: Mit einem Mal halte ich etwas Rundes in den Händen – der Ball ist das nicht. Es ist viel zu klein und kann sprechen: „Würdest du bitte meinen Kopf loslassen?“

Oliver Lück

Informationen: Niendorfer TSV, Geschäftsstelle, Tel. 58 16 15