Bleib mir vom Leibe!

■ Nicht nur für die Feiertage: Drei Hamburger geben Tips zu couragiertem Alltagshandeln Von Folke Havekost

Wie verhält mensch sich als UnbeteiligteR bei einer Schlägerei in der U-Bahn? Was tun, wenn frau abends nach Hause geht und ihr folgende Gestalten bemerkt? Gibt es das überhaupt, Nicht-beteiligt-Sein? Wie können, wie sollen Konflikte gelöst werden? Wer sich von der Illusion verabschiedet, von Gewaltsituationen nicht betroffen zu sein und sich auf Distanz halten zu können, befindet sich in der Debatte über die Möglichkeiten, solche Situationen gewaltfrei zu lösen.

Drei Hamburger Autoren haben sich diese Fragen gestellt. Ihr Ergebnis ist das Buch Zivilcourage, herausgegeben von der Arbeitsgemeinschaft freier Jugendverbände. Zwar richtet sich diese Materialiensammlung für Jugendarbeit an LehrerInnen und SozialpädagogInnen. Dennoch reicht es über den Charakter einer Sammlung von Anregungen für Seminare und Projektwochen hinaus. Die „Anleitung zum kreativen Umgang mit Konflikten und Gewalt“ (Untertitel) ist im Ansatz radikal: „Die Idee ist nicht, die Täterin zurückzuhalten und mit ihr einen Streit anzufangen, sondern gerade das Opfer zu stärken“, führen die Autoren aus. Das bedeutet für sie auch, Gewaltpotentiale zu verhindern beziehungsweise zu reduzieren, und fängt folglich beim Verständnis und Hinterfragen der eigenen Rolle an: Welche Werte sind für mich gültig? Welche Identität gewinne ich dadurch? Und wie weit grenze ich mich dadurch vom abstrakten „Anderen“ ab? Auch physische Grenzen werden in den Übungen („Bleib mir vom Leibe!“) ausgetastet. Über die Liste der Trainingsübungen hinaus erörtern die Kapitel neben Zivilcourage auch Teamarbeit, kreative Handlungsoptionen sowie Möglichkeiten und Grenzen couragierten Alltagshandelns.

Einer Definition und Problematisierung der zentralen Begriffe Angst, Aggression, Feindbild und Gewalt folgt der Bogenschlag zwischen Alltagshandeln und gesamtgesellschaftlicher Perspektive. Zivilcourage wird entworfen als Prinzip des einzelnen, der einer „höheren Instanz“, wie die Autoren etwas mißverständlich von Martin Buber übernehmen, mehr als Gehorsams- oder Legalitätsprinzipien verpflichtet ist. Und das möglichst immun und sensibel gegen die Banalität des Bösen, wie Hannah Arendt sie im totalitären Nazi-Deutschland beschrieben hat. Katastrophenszenarien festzustellen lag den Autoren fern. Doch, so führen sie aus, „es wird immer wieder Situationen geben, in denen der Konflikt so zugespitzt ist, daß er gelöst werden muß – nach Möglichkeit zugunsten der Schwächeren“. Dies sei auch eine Sache des Trainings, „in bedrohlichen Situationen anders zu reagieren als gewohnt und anders zu reagieren als erwartet“.

Selbst initiativ werden und die Opferrolle durchbrechen ist der nächste Schritt. Die Theorie wird durch Trockenübungen gefüttert. In einer Übung, einem an Augusto Boal angelehnten „Statuentheater“, bildet die Trainingsgruppe eine erlebte oder fiktive Gewaltsituation nach. Nacheinander greifen „BildhauerInnen“ ein und verändern die Statuen. Das ist quasi Zivilcourage in progress und dementsprechend keine „Anleitung“ im konventionellen, belehrenden Sinne. Statt fertiger Antworten bietet das Buch kreative Ideen. Einfach – man ahnt es – ist Zivilcourage nicht. Von den anfänglichen Übungen bis zum Mut eines – im Buch beschriebenen – Polizeibeamten, der einen widerrechtlich eingesperrten Flüchtling aus der Zelle entließ und bei einem Freund unterbrachte, bedarf es einiger Schritte.

Der Versuch, gewaltfreie Übungsformen bis hin zum interaktiven Theater zu katalogisieren und zugleich die Perspektive zu eröffnen, Zivilcourage nicht mit dem Anzünden eines Kerzleins gegen Rassismus zu verwechseln, ist dem Autorentrio gelungen.

„Zivilcourage“, D. Lünse, J. Rohwedder, V. Baisch, Agenda-Verlag, 148 Seiten, 19,90 Mark.