piwik no script img

Hungerstreik für einen Hungerlohn

In Warschau demonstrieren 30.000 Krankenschwestern und Hebammen für höhere Gehälter. Die Regierung will das Problem auf die Klinikchefs abwälzen, bietet jetzt aber einen Kompromiß an  ■   Aus Warschau Gabriele Lesser

Seit gestern hungern 30.000 von insgesamt 250.000 polnischen Krankenschwestern und Hebammen. Weitere 70.000 haben bereits angekündigt, sich dem Hungerstreik anzuschließen, wenn die Forderung ihrer Gewerkschaft nach einer Gehaltserhöhung nicht berücksichtigt wird.

Gestern demonstrierten sie zum zweiten Mal innerhalb weniger Wochen vor dem Parlament in Warschau. Die schwarzen Luftballons, die Trauerkleidung sowie die zahlreichen um den Hals gehängten Pappschilder mit der Aufschrift „Hungernde Krankenschwester“ und „Auch Du wirst einmal Patient“ verfehlten ihre Wirkung auf die Politiker nicht. Erstmals seit anderthalb Monaten machte die Regierung nun den DemonstrantInnen einen Vorschlag zur Güte. Den Kliniken soll der Kredit gestundet werden, den sie im letzten Jahr zur Finanzierung des 13. Monatsgehalts des Pflegepersonals bekommen hatten. Mit diesem „Überbrückungsgeld“ sollen die Direktoren zunächst die Gehaltsforderungen der Krankenschwestern erfüllen. Bozena Banachowicz, Vorsitzende der Krankenschwesterngewerkschaft, will diesen Vorschlag prüfen.

Doch schon jetzt ist abzusehen, daß dieser Vorschlag das Problem nicht löst. Krankenschwestern verdienen durchschnittlich 700 Zloty im Monat, umgerechnet rund 350 Mark. Sie liegen damit nur wenige Zloty über dem Arbeitslosengeld. Leben können sie davon nicht. Viele müssen von den Eltern oder dem Ehepartner unterstützt werden. Die Krankenschwestern fordern daher eine jährliche Gehaltserhöhung von zwei Prozentpunkten über der Inflation. Sie machen die Gesundheitsreform für ihre miserable Situation verantwortlich.

Auch Polens Oberste Kontrollbehörde hat der Regierung vor kurzem ein „ungenügend“ für ihre Gesundheitsreform erteilt. Sie sei schlecht durchdacht, die Krankenkassen und Ärzte kämen mit der neuen Bürokratie nicht zurecht, es herrsche allgemeines Chaos. Die Direktoren der Kliniken, die von einem Tag auf den anderen mit einem festen Budget auskommen müßten, kauften lieber neue Apparate, als den Ärzten, Krankenschwestern und Hebammen eine Gehaltserhöhung zu zahlen.

Im letzten Jahr wäre es fast zu einer Katastrophe gekommen, als die Narkoseärzte nach monatelangen Protesten und einem Hungerstreik massenhaft kündigten, um endlich eine Gehaltserhöhung durchzusetzen.

Die Regierung hat aber aus diesem Ärztestreik nichts gelernt. Seit Wochen sagt sie den Krankenschwestern wie zuvor den Ärzten, daß sie der falsche Ansprechpartner für Gehaltserhöhungen sei. Ihre Arbeitgeber seien die Klinkchefs, nicht der Ministerpräsident oder der Gesundheitsminister.

Doch davon lassen sich die Krankenschwestern nicht beeindrucken. Denn die Klinkchefs genehmigen sich zwar gerne selbst eine saftige Gehaltserhöhung, machen aber für die „leere Kasse“, aus der sie den Krankenschwestern „leider“ nichts zahlen können, die Regierung verantwortlich. Nach dem Motto: „Wenn die Regierung für die Krankenschwestern kein Extrabudget vorsieht, will sie auch keine Gehaltserhöhung für sie.“ Die Folge: Nicht nur immer mehr Ärzte eröffnen private Praxen, auch immer mehr Krankenschwestern kündigen ihre Stellen und schulen um.

Denn das Gehalt reicht hinten und vorne nicht. Die Gesellschaft steht hinter den Forderungen: 90 Prozent der Polen, so ergab unlängst eine Umfrage, halten die Proteste der Krankenschwestern für berechtigt. Über 50 Prozent meinen, daß die Regierung, die eine so unzureichende Reform durchgesetzt hat, auch für ihre Fehler geradestehen und mit den Krankenschwestern direkt verhandeln soll. Doch daran glaubt kaum einer. „Wenn die Regierung das bisherige Verhandlungstempo beibehält“, unkt eine Krankenschwester, die vor dem Gesundheitsministerium schon seit dem 20. Mai in einem Zelt ausharrt, „sind wir noch Weihnachten hier.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen