Melancholische Ordnungen

■ Egon Fiebel – Magier dunkel lockender Gegenwelten

Wenn dem Kritiker beim 3. Internationalen „Flimmerwöchli“ in St. Gallen nicht – man verzeihe ihm dies gewiß gallige Wortspiel – die Milz übergelaufen ist, dann ist dies nur dem Umstand zu schulden, daß inmitten dieses Meeres an filmischer Mediokrität ein Mann aufragte wie die sprichwörtliche Faust im Nacken. Er allein war es, der es wagte, mit einem schwarz-weißen Meisterwerk Farbe zu bekennen und dem Ansturm amerikanischen Bilderschunds die Stirn zu bieten, ein Mann, dessen Namen, in güldenen Lettern gestickt auch über Ihrem Schreibtisch hängen sollte: Egon Fiebel.

Sicher, sein neuestes Werk „Nachtschatten“ ist keine Kost für schwache Gemüter, aber wer die vier Stunden, die Fiebels „kleiner“ Film dauert, auf den harten Stühlen des St. Gallener Kreiskinos ausgeharrt hat, wurde für die Mühsal mehr als belohnt: Denn obwohl Fiebel mit seinen 78 Jahren wesentlich älter ist als seine berühmten Kollegen vom deutschen Film, versteht er es merkwürdigerweise sehr viel besser als vielumjubelte Regisseure wie Tom Nebling, das Kernmotiv des jungen deutschen Kinos freizusetzen und durchsichtig zu machen, so sprichwörtlich durchsichtig wie Zelluloid: die Notwendigkeit nämlich, einer schnöden und oftmals schäbigen Realitat mit Pathos und endlosen Kamerafahrten zu begegnen. Und er beherzigt dabei das Leitmotiv jeder großen Bilder-Kunst: Kino kennt keine Kompromisse, sondern beweist sich im radikalen Entwurf von dunkel lokkenden Gegenwelten.

Ein fast tot geglaubtes, urdeutsches Genre feiert hier filmische Auferstehung. Es ist eine trostlose Welt, die Fiebel entwirft, ein Panoptikum der Irrwege einer orientierungslosen Gesellschaft und ihrer Versuche, ihrer wenig verlokkenden Wirklichkeit zu entkommen. Fiebel gelang ein erstaunlich intimer, stiller, fast bescheidener Film, der ein betörend authentisch wirkendes Bild einer Gesellschaft im Umbruch entwirft und der auch als Parabelentwurf auf unsere gesamtdeutsche Gegenwart gelten darf. Und, wen wundert es noch, wie nebenher wird da, man möchte fast sagen mit souveräner Beiläufigkeit oder doch zumindest beiläufiger Souveränität, ein Bild einer Zeit entworfen, in der sich Askese und Genußsucht, Gier und Hingabe ganz selbstverständlich in die Entwürfe kriegen.

Doch „Nachtschatten“ ist zunächst und vor allem ein Film, der keiner Sehgewohnheit entspricht – und eben dadurch zum Sehen zwingt. Dabei gewinnt er eine kaum glaubliche, auch beim zweiten, dritten, ja selbst beim vierten, fünften und sechsten Schauen noch nicht durchschaubare Komplexität, die weit entfernt ist von jenen kühl kalkulierten Kintoppwelten, mit denen Hollywoods Medienmoguln unsere abendländischen Sehgewohnheiten zu kolonisieren versuchen. Nicht zuletzt ist „Nachtschatten“ aber auch ein Meilenstein in der Geschichte des europäischen Films.

Er ist nicht weniger als die Summa abendländischer Bilder-Bildung, die sich nicht scheut, etwas einzufordern, was als Bild-Dung zu umschreiben dem Berichterstatter nicht vermessen scheint: der Dung der Bilder, die die Welt bedeuten. Und was ein kleines Wunder ist: Trotz der vielen Zitate gerät der Film nicht zu einem postmodernen Durcheinander. Im Gegenteil: Fiebel gelingt es, sein filmenzyklopädisches Wissen unauffällig in seinen Stil einzuverleiben – die Bilder bleiben melancholisch, ohne rührselig zu wirken, kraftvoll, ohne aufdringlich zu protzen, nüchtern, ohne ihre éducation sentimentale zu verleugnen, poetisch, ohne der Realität ihren Schmutzfilm zu nehmen, kraß, nicht ohne dabei der Süße des Scheins verlustig zu gehen, heiter-verspielt, ohne düster-verstockt, geschickt gestrickt, ohne verzwickt zu wirken – und dies alles, ohne den sprichwörtlichen roten Faden fallen zu lassen! Gleichzeitig ist es ein Werk von geradezu stupendem Ehrgeiz. Denn Fiebel will zusammenzwingen, was selbst die großen Klassiker der zwanziger und dreißiger Jahre nicht schafften: Er möchte in seiner Demontagetechnik stilbildend sein wie Eisensteins Straßenkreuzer Pudowkin, bilderbewußt wie Murnaus Blauer Reiter und visionär wie Langs Tiger von Romadur.

Daß Fiebel an dieser Aufgabe nicht zerbrochen ist, macht ihn zu einem Großen des abendländischen, ja des abendfüllenden Films. Rüdiger Kind