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„Nun sind wir wohl erwacht“

Am Wochenende hatte in New York der letzte Film von Stanley Kubrick Premiere: „Eyes Wide Shut“. Es ist auch ein letzter Film über die Liebe. Was wäre, wenn man sich in der Liebe alles sagen würde? Sogar die geträumten Seitensprünge?  ■   Von Georg Seeßlen

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Wenn man Arthur Schnitzlers „Traumnovelle“ zum ersten Mal liest, haut sie einen ziemlich um. Ich habe sie angefangen auf dem langen Flug nach New York, zwischen „Shakespeare in Love“ und „Never Been Kissed“ – boring stuff, wie meine Mitreisenden zutreffend feststellten – dann die Lektüre fortgesetzt auf dem Deck eines Sightseeing-Busses, mit längeren Aufenthalten am Empire State Building und vor dem Plaza-Hotel, wo die teuersten Suiten 15.000 Dollar die Nacht kosten, und beendet in einem Hotelzimmer, das verdammte Ähnlichkeit mit dem Zimmer des Boxers in Kubricks „Killer's Kiss“ hatte, nur daß man, wenn man aus dem Fenster sah, nichts Besonderes zu sehen bekam, schon gar keine schöne Frau in Schwierigkeiten.

Daß die „Traumnovelle“ ein Stoff für Stanley Kubrick war, wird einem schon auf den ersten Seiten klar. Es ist die Grenzüberschreitung aus eigener Kraft, die das Werk jenes Dichters und Sex-Maniacs auszeichnet, den Sigmund Freud als einen literarischen Wegbereiter seiner Arbeit angesehen hat, was ein wenig übertrieben sein mag, denn Schnitzler blieb in aller seiner melancholischen Manie doch eher an der Oberfläche der sexuellen Ökonomie seiner Zeit. Was natürlich einerseits schon genug des literarischen Widerstands ist und andererseits noch nichts über das Literarische dieser Literatur aussagt. Bis dann eben die „Traumnovelle“ kam.

Zuerst einmal eine einfache und absonderliche Geschichte über ein bürgerliches Paar, das nach dem Besuch eines Balls, bei dem es zu kleinen erotischen Begegnungen kam, beschließt, einander die Wahrheit über die geträumten oder (beinahe) realisierten Seitensprünge in einer durchaus gelungenen Zweierbeziehung zu erzählen. Die Frau berichtet von einem Traumerlebnis mit einem Marineoffizier während der gemeinsamen Ferien, und das läßt den Mann nicht mehr los. Am Abend wird der Mann, er ist Arzt, wie es auch Schnitzler bis zum Tode seines Vaters war und wie es der Vater von Stanley Kubrick gewesen ist, zu einem Sterbenden gerufen, und am Totenbett gesteht dessen Tochter ihm seine Liebe, heftig und sinnlos, spätestens beim Eintreffen ihres Verlobten wird das klar, und statt nun nach Hause zu gehen, gerät der Arzt zuerst an eine jugendliche Hure, dann, nachdem er einen alten Freund getroffen hat, in ein bizarres erotisches Maskenspiel, die Travestie eines katholischen, de Sadeschen, karnevalesken und schließlich tödlichen Mysterienspiels. Am Ende ist nicht nur Ernüchterung die Folge, sondern vielleicht auch die Frage, wer denn nun in wessen Träumen spukte und wo denn die Grenzen zwischen dem Traum und der Wirklichkeit überschritten wurden.

„Nun sind wir wohl erwacht“, sagt die Frau, als sie den Abenteuern ihrer Träume gerade noch entkommen sind, „für lange.“ Das Träumen war nicht heilsam in „Traumnovelle“, es hatte sich in einem Labyrinth verlaufen, an dessen Ende sich nicht nur die Liebe, sondern auch die Wahrheit als Illusion erwiesen hat. Das Begehren konnte sich, anders als in der melodramatischen Erzählweise, nicht mehr von der Liebe abspalten und auf diese Weise kontrolliert und möglicherweise bestraft werden, im Gegenteil, die Liebe zu dem einen setzt das Begehren nach allen eigentlich erst in Schwung, so wie das Interesse an der Wahrheit des anderen erst die Phantasmen ins Leben ruft. Liebe kann nur ein Prozeß der Selbstaufhebung sein. Eine Erkenntnis, vor der sich ein Film wie „Shakespeare in Love“ natürlich nur in die wohlfeilste Opferidee flüchten kann. „Did you cry?“ fragt ein High-School-Mädchen im Flugzeug das andere, schon als „Shakespeare in Love“ noch nicht ganz zu Ende, aber reichlich absehbar ist. „No, I didn't.“ Es ist ja auch nicht wahr, daß „Romeo und Julia“ von einer unmöglichen Liebe handelt. Sondern schon von der Unmöglichkeit der Liebe. Es ist verflucht heiß in New York, am 16. Juli 1999.

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Warum hat Stanley Kubrick, dieser notorische Amerika-Flüchtling, die Handlung der „Traumnovelle“ ausgerechnet von der Wiener „Dekadenz“ ins New York der Gegenwart verlegt? Ich verweigere mich erst einmal den episodischen Antworten, die der Drehbuchautor Frederic Raphael in seinem Buch „Eyes Wide Open“ gibt – bei „Borders“ erstanden, gleich neben Loew's Cineplex, wo man seine literarische Beute unverzüglich in einem angeschlossenen Café vertilgen kann. Kubrick wollte diesmal offensichtlich nicht von einer Zeit sprechen, sondern von einem Problem. Deswegen wohl kehrt er nach New York zurück, das gerade in seinem urbanen Durcheinander von Aufbruch und Agonie mit einem neuen, nun universalen Bürgertum eine ganz ähnliche Endphase erreicht wie das Wien der Zeit von Sigmund Freud und Arthur Schnitzler.

Ich sehe „Eyes Wide Shut“ auf der größten Leinwand der Stadt, deren Architekturen alle Formen der Modernisierung durchlaufen haben, bis sie nun wieder an ihrem eigenen Neoklassizismus angelangt sind. Die Klimaanlage wirbelt Schwaden von Popcorn- und Cola-Düften umher und den von besonders süßen Kaffee-Mixgetränken, die mich sogleich wieder an Schnitzlers Wien denken lassen. Die Zeit drogiert sich selbst.

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Raphael und Kubrick bleiben viel näher an Schnitzlers Text als der Credits-Text „inspired by ...“ erwarten läßt. Die Namen sind modernisiert und, bei näherer Betrachtung, „kubrickisiert“, aber die Dialogpassagen sind oft fast wörtlich übernommen. Ein besonders gemeiner Trick des Regisseurs ist es, die ganze Geschichte zur Weihnachtszeit spielen zu lassen (natürlich gibt es bei Kubrick keinen Schnee), und so werden grell und häßlich erleuchtete Weihnachtsbäume zu einer Art visuellem Leitmotiv, das nicht nur den Widerspruch zwischen einem sexuellen Traumrausch und der ökonomisch-semiologischen Konstruktion der Familie betont, sondern eine Ebene tiefer auch in die Mythologie der Heiligen Familie führt, die hier auf dem Prüfstand steht.

Auch hier beginnt alles mit einem eher harmlosen Fest. Während sich die etwas angetrunkene Alice von einem ungarischen Herrn umgarnen läßt, droht ihr Mann Bill von zwei Modells abgeschleppt zu werden, bis ihn der Gastgeber zu einer nackten, durch Drogenmißbrauch halbtoten Frau bringen läßt. Sie wird noch einmal gerettet, nicht wirklich. Zu Hause kommt es dann zu einer durch einen Joint bekräftigten Aussprache zwischen zwischen Alice und Bill, eine Schlüsselszene und ein Meisterwerk für sich.

Wie man aus einer Dialogszene soviel Film gewinnen kann – und nebenbei: wie gut Tom Cruise und Nicole Kidman in diesem Film sind –, das zeigt Kubrick so nebenbei, während er den wahren Diskurs dieses Films eröffnet: Sollte man das Begehren um der Liebe willen kontrollieren, und ist nicht die Kontrolle selbst schon der Verrat, ein Verrat, der vor allem der Frau Unrecht tut, die sich in das Subjekt der Liebe und in das Objekt der Begierde spalten soll? Die Frau spricht von ihrem eigenen Begehren, ein Bild, das sich buchstäblich in die Wahrnehmung des Mannes einfrißt – immer wieder wird nun eine kurze, in Schwarzweiß gehaltene Szene auftauchen, in der der Marineoffizier ihrer kurzen Traumbegegnung mit seiner Frau schläft.

Wie bei Schnitzler wird der Arzt nun an das Sterbebett eines Mannes gerufen, und eben dort, im Haus des Toten, beginnt seine erotische Odyssee. Er läßt sich von einer freundlichen Hure ansprechen und mit in ihre Wohnung nehmen. Anders als bei Schnitzler ist es ein Anruf seiner Frau auf seinem Handy, der ihn vom Vollzug des Ehebruchs abhält. Im übrigen verweigern, ebenfalls im Gegensatz zur „Traumnovelle“, in „Eyes Wide Shut“ die Menschen für ihre merkwürdigen Dienste nicht das Entgelt. Durch einen alten Freund, der sich nach seinem gescheiterten Medizinstudium als Klavierspieler durchschlägt, kommt Bill auf die Spur einer geheimen sexuellen Installation, und weil er das Kennwort aufgeschnappt hat, läßt er sich auch nicht mehr davon abbringen, die lüsterne Séance zu besuchen. Dazu muß er sich zunächst eine Verkleidung besorgen und kommt in ein verwunschenes Geschäft eines Kostümverleihers, in dem er Zeuge wird, wie der Besitzer seine minderjährige Tochter aus den Klauen zweier Wüstlinge befreit. Als der die zwei einsperrt und mit der Polizei droht, erklären sie wütend, sie seien doch von ihr eingeladen worden.

Auf dem geheimen Treffen wird Bill mehrfach gewarnt und schließlich enttarnt. Man läßt ihn nur laufen, weil sich eine Frau für ihn zu opfern bereit ist. Kubrick läßt da eine aberwitzige Vision aus Ritualen, endlos sprechenden Masken und Erotismus ablaufen, eine Raum- und Körper-Oper, in der der „Eingriff“ der Musik Ligettis zugleich erklärt und entfernt.

Zu vergleichen sind diese von aller erzählerischen Notwendigkeit befreiten Szenen, wenngleich in einer vollkommen anderen Ästhetik, allenfalls mit der Wiedergeburt des Astronauten Bowman am Ende von „2001“. Und wie dort beginnt nun eine Rückwärtsbewegung: Bill kommt nach Hause und findet seine Frau in einem Alptraum: Sie hat geträumt, sie beide hätten in einer verlassenen Landschaft gelebt, nackt und schamvoll, und er sei davongegangen, um Kleidung zu besorgen, und dann sei zuerst ihr Traumliebhaber gekommen, und dann viele andere Männer, mit denen sie geschlafen habe, zum Vergnügen derer, die zusehen, und als er zurückgekommen sei, habe sie ihn mit aller Kraft auslachen wollen.

Der Arzt wird nun Rechercheur in eigener Sache, er durchläuft die Stationen seiner erotischen Odyssee rückwärts, und da gelingen Kubrick wieder logisch-ästhetische Kabinettstücke, wie kein anderer Regisseur dieser Welt sie zustande brächte. Wieviel Inszenierung hat der Traum enthalten, wieviel von dem, was er erlebt zu haben glaubt, war ein nur für ihn bestimmtes Schauspiel? Eine Menge Kafka mischt sich da in das Schnitzlersche Werk. Als er die Maske, die er an diesem Abend getragen hat, neben seiner schlafenden Frau findet, bricht Bill zusammen. Er erzählt ihr „alles“. Der Schnitzler-Dialog über das Erwachen findet in einem Spielzeugladen statt, den die beiden mit der Tochter kurz vor Weihnachten besuchen. Nie wieder wird man sagen können, ein Traum sei nur ein Traum.

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Es ist klar: Kubrick hat mit „Eyes Wide Shut“ nicht nur eine Literaturverfilmung geschaffen, die einmal mehr klüger ist als der Text, oder auf eine andere, eine filmische Weise klug, nicht nur einen Film über die Liebe und ihren Schmerz, die erotische Phantasie und die Melancholie ihres Scheiterns, sondern auch eine seiner Revisionen des eigenen Werks. Spuren führen zu beinahe allen seiner früheren Filme. Nur zum Beispiel sagt Bill zu seiner Tochter, als die sich ein „pet“ zu Weihnachten wünscht, dasselbe „We'll see about that“ wie der Astronaut in „2001“; die Geschichte dieser Familie ist wie eine Spiegelung der Geschichte in „The Shining“ (was wäre, wenn man, statt sich voneinander abzukapseln, einander alles zu offenbaren versuchte?); die Visionen des öffentlichen Schauspiels von Sexualität erinnern an das Ende von „A Clockwork Orange“. Und so weiter.

Die Kreise im Inneren des Films – nur zum Beispiel versprechen die beiden Models auf der Party, Bill ans Ende des Regenbogens zu führen, und im Kostümverleih „Rainbow“ beginnt auch seine Odyssee – ergänzen sich mit Kreisen in Kubricks Gesamtwerk. Wenn „Barry Lyndon“ ein Film der melancholischen Öffnungen durch die Fahrt der Kamera zurück war und „Full Metal Jacket“ ein Film der grotesken Verknüpfung von Distanz und Nähe, dann ist „Eyes Wide Shut“ der Film des Kreisens. Sparsamer eingesetzt sind Kubricks „Tunneleffekte“ hier, dafür gibt es in einer ganzen Reihe von Einstellungen einen beängstigenden Aspekt der Tiefenschärfe. Mal sind wir mitten drin, mal zu einem hinterhältigen analytischen Sehen herausgefordert. Das Subjekt und die objektive Betrachtung kommen nicht zusammen. Ich wage zu behaupten, daß Schnitzler mit der „Traumnovelle“ das Scheitern der Psychoanalyse als „Heilmittel“ der bürgerlichen Welt vorweggenommen hat und daß Kubrick mit „Eyes Wide Shut“ unter vielem anderen auch vom Scheitern des psychologischen Realismus – nebst einer Seitenlinie des Phantastischen – im Kino gesprochen hat.

Richtig großartig wird sein Film einmal mehr, weil er in seiner langen Herstellungsphase nicht bloß für jede Sequenz genau das Richtige gefunden hat, sondern auch durch das, was er unterwegs fortgelassen hat: viele erklärende, viele verbindende Szenen; viel von dem, was in Gefahr steht, statt Spur schon Antwort zu sein. Nein, „Eyes Wide Shut“ hat es nicht nötig, auf diese Weise verstanden zu werden. Aber erwarten Sie von mir nun nicht die Plattitüde vom „verstörenden Meisterwerk“.

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Heute regnet es in New York, obwohl es immer noch ziemlich heiß ist. „Eyes Wide Shut“ hätte an keinem anderen Ort der Welt spielen können. Nicht wie bei Woody Allen – Kubrick war ja gar nicht hier –, sondern wie unter einem Brennglas. Überall sonst auf dieser Welt hätte man entweder nach einem Ausweg oder nach Schuldigen gesucht. Das sei aber ein sehr kurzer Aufenthalt gewesen, sagt die Frau am Schalter für Visa und Immigration. Sie sieht übrigens nicht nur sehr gut, sondern auch sehr sympathisch aus. Ja, sage ich, aber es hat sich gelohnt. Ich habe den letzten Film über die Liebe gesehen. Und jetzt fliege ich zurück. Die Augen tief geöffnet.

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