: Das harte Dasein am Kranoldplatz
■ Die Mirsch-Radtkes sind eine deutsche Familie – und sind es doch nicht. Sie stammen aus Ghana und wohnen in Berlin-Neukölln. Daheim fühlen sie sich dort aber nicht. Eine Geschichte von der Unmöglichkeit der Integration
Hochzeit bei den Windsors in England. Seit gut einer halben Stunde überträgt die ARD das gesellschaftliche Großereignis. Doch obwohl der Fernseher in der Dreizimmerwohnung am Kranoldplatz in Neukölln bereits seit Stunden läuft, widmet die fünfköpfige, aus Ghana stammende Familie der Eheschließung zwischen Prinz Edward und Sophie Rys Jones allenfalls beiläufige Aufmerksamkeit.
Vater Kwame Radtke*, 43, hat sich in das Bügeln des wöchentlichen Wäschebergs vertieft. Mutter Veronica Mirsch*, 44, sitzt dösend auf der Couch und blinzelt nur ab und zu schläfrig in Richtung Bildschirm. Die drei Kinder, Maureen*, 11, Rose*, 7, und Shawn*, 5, können dem königlichen Geschehen ohnehin nichts abgewinnen. Gelangweilt pendeln sie zwischen Kinderzimmer und Wohnraum hin und her.
Es ist Samstag nachmittag, die Sonne scheint, und eigentlich ist heute kein Wetter zum Stubenhokken. Trotzdem werden die Geschwister an diesem Tag kaum noch nach draußen kommen. Ihre Mutter – sie hat zwischen 23 Uhr nachts und 8 Uhr morgens als Putzfrau gearbeitet – ist zu müde, um mit den Kindern noch etwas zu unternehmen. Auf den Vater wartet weitere Hausarbeit. Und für einen Spaziergang alleine ist diese Neuköllner Gegend für ihre Kinder zu gefährlich. Davon ist Veronica Mirsch überzeugt. Dabei hält sich zumindest das Verkehrsaufkommen rund um den Kranoldplatz in mäßigen Grenzen.
Unbedarften Besuchern mag der Kiez zwischen den U-Bahnhöfen Grenzallee und Hermannstraße für Neuköllner Verhältnisse geradezu beschaulich erscheinen. Für die afrikanische Familie aber hat er sich in den vergangenen Jahren zum Feld täglicher Spießrutenläufe entwickelt.
Die Kneipen rund um den Platz sind fest in deutscher Hand. So mancher aus den Gaststätten kommende Arbeitslose sieht die Ursache seines Elends in der Anwesenheit der schwarzen Anwohner. Unfreundliche Blicke gehören zum Standard. Zu Pöbeleien kommt es erst nach mehreren Schnäpsen. Eine feindliche Gesinnung, die sich nach Ansicht der ghanaischen Mutter auch auf die Nachkömmlinge übertragen hat: „Wenn meine Kinder auf dem Kranoldplatz spielen wollen, werden sie von anderen Kindern wegen ihrer Hautfarbe gehänselt.“ Auch auf den Spielplätzen in der Gegend sei es nicht besser. Ganz abgesehen davon, daß dort häufiger schon Spritzbesteck von Heroinsüchtigen gefunden worden sei. Selbst der Rückzug in den Hof des Wohnhauses bleibt den afrikanischen Kindern verwehrt. „Vor ein paar Jahren ist in die anliegende Parterrewohnung ein älteres deutsches Ehepaar eingezogen“, erzählt Veronica Mirsch. „Mit Blumenkästen haben die sich eine Art Terrasse abgeteilt, und immer, wenn sich meine Kinder diesem Areal nähern, werden sie von der Frau angemeckert und verjagt. Sie könnten den Blumen etwas zuleide tun. Dabei habe ich meine Kinder so erzogen, daß sie den Besitz von anderen respektieren und nichts kaputtmachen.“
Für deutsche Mieter in einer ähnlichen Situation wäre die Reaktion auf ein derartiges nachbarschaftliches Mobbing ziemlich klar: Sie würden die Gebote des egoistischen Ehepaares schlicht ignorieren, sich nachhaltig beim Hausbesitzer beschweren oder die Miesepeter notfalls vor den Kadi zitieren. Der Hof ist für alle da. Und Kinder haben ein Recht auf Spielen. Veronica Mirsch aber fehlt die Kraft zur Gegenwehr. Seit sie vor 17 Jahren ihrem Freund Kwame – er hatte sich gerade von seiner deutschen Frau getrennt – nach Berlin folgte, sieht sie ihre Hoffnungen und Energien einem zunehmenden Verschleiß ausgesetzt.
Angefangen hatte es mit der Schwierigkeit, im Gastland eine Aufenthaltserlaubnis zu erhalten. Die Ghanaerin hatte deshalb, als sie nach Deutschland kam, mehr pro forma als aus Liebe einen Deutschen geheiratet. Dazu kamen der Anpassungsdruck an eine Gesellschaft, die sie als abweisend empfand, sowie die nächtliche Arbeit, die sie fünfmal in der Woche macht und die an ihr zehrt. Das größte Problem aber besteht in den andauernden Schwierigkeiten ihres Nachwuchses im Kindergarten, vor allem aber in der Schule. In der Hierarchie der dort überwiegenden Ausländerkinder stehen Maureen und Rose mit ihrer dunklen Hautfarbe weit unten. Ausdrücke wie „Neger“ oder „du stinkst“ sorgen regelmäßig dafür, daß die beiden tränenüberströmt nach Hause kommen. Die vielen von den Lehrern in ihre Schulhefte mit rotem Stift eingekritzelten Korrekturen und Anweisungen lösen bei der Mutter zusätzliche Verzweiflungsschübe aus. Dauerstreß mit den ausschließlich deutschen Nachbarn will sie sich da nicht noch als weitere Belastung antun: „Alleine stehen wir doch auf verlorenem Posten.“
Für die derzeit in Berlin offiziell 1.876 lebenden Ghanaer sind die Mirsch-Radtkes vielleicht nicht typisch. Dennoch repräsentieren sie vor allem mit ihren merkwürdig unpassenden Nachnamen einige der Paradoxien, die ihre Landsleute in Deutschland erleben. Da für Afrikaner ein Aufenthaltsrecht praktisch nur über die Heirat mit einem einheimischen Partner erreichbar ist, finden sich zahlreiche in „wilder Ehe“ lebende dunkelhäutige Paare. Deren Nachnamen klingen zwar deutsch-vertraut. Ihr Nachwuchs, der ja nicht von den offiziellen Partnern stammt, sieht jedoch so afrikanisch aus wie die Eltern.
Angesprochen auf diese Familienverhältnisse, reagieren die Mirsch-Radtkes mit betretenem Schweigen. Obwohl sie sich ihre Situation nicht ausgesucht haben, ist sie ihnen peinlich. Um so mehr sind sie bemüht, im deutschen Alltag alles richtig zu machen. Die Kinder sind ausgesucht höflich und stets sorgfältig gekleidet. Ihre Eltern wollen niemandem zur Last fallen. Seitdem der Vater vor zwanzig Jahren nach einem abgebrochenen Technikstudium in Moskau nach Berlin gekommen ist, arbeitet er als angestellter Elektriker. Auch die Mutter – eigentlich eine ausgebildete Hauptschullehrerin – war sich für ihre diversen Jobs nie zu schade. Erst verdiente sie als Küchenhilfe, dann als Fabrikarbeiterin und jetzt als Putzfrau ein eigenes Einkommen.
Damit soll demnächst aber Schluß sein. Die Mirsch-Radtkes wollen nun doch nicht bis zur Rente warten, sondern bereits in diesem Jahr zurück nach Ghana gehen. „Seit die Mauer gefallen ist, hat sich die Lage für die Afrikaner in Berlin sehr verschlechtert“, ist Veronica Mirschs Erfahrung. Auf dem Arbeitsmarkt zählten dunkelhäutige Bewerber zur letzten Wahl. Die einstige Multikulti-Stimmung in ihrem Kiez Neukölln sei zudem einer aggressiven Hackordnung gewichen, die sich besonders an den Schulen bemerkbar mache: Wer nicht mit teuren Nachhilfestunden sowie permanenten Interventionen der rassistischen Stimmung gegensteuern könne, habe hier keine Zukunft. Daß die Situation in anderen Bezirken womöglich besser sein könnte, ist den Mirsch-Radtkes bisher nicht als Lösung des Problems erschienen. „Wir haben immer nur in Neukölln gewohnt“, erklärt das Paar. „Außerdem sind in den anderen Bezirken die Wohnungen zu teuer.“
Je unwohler sich die Mirsch-Radtkes in Berlin fühlen, desto rosiger erscheint ihnen ihre Heimat Ghana. „Jeder, der dort an deinem Haus vorbeigeht, grüßt dich freundlich“, schwärmt Kwame Radtke. Die Kriminalitätsrate sei gering, die Erziehung in den Schulen besser. „Die Kinder werden nicht einfach aufeinander losgelassen, sondern lernen Disziplin und gegenseitigen Respekt“, glaubt Veronica Mirsch.
Ganz von der Hand zu weisen ist das positive Bild des westafrikanischen Landes tatsächlich nicht. Nach Zeiten der politischen Wirrnis und wirtschaftlichen Not Ende der siebziger bis Mitte der achtziger Jahre hatte sich die Lage unter Jerry J. Rawlings – erst Diktator, dann gewählter Präsident – zunehmend stabilisiert. Ghana gehört heute zu den wenigen afrikanischen Ländern, die auf ein zwar kleines, aber stetiges Wirtschaftswachstum blicken können.
Blankson Donkor, ein ebenfalls aus Ghana stammender Berliner, bemerkt indes kritisch. „Die Reichen werden dort immer reicher und die Armen immer ärmer.“ Auch Blankson Donkor ist vor knapp zwanzig Jahren in die einstige Mauerstadt gekommen. In Ghana war er verfolgt und mit dem Tod bedroht worden. In Berlin bekam er deshalb politisches Asyl. Trotz dieser sehr schlimmen Erfahrungen wird auch er immer wieder von Heimweh erfaßt, wenn er an Ghana denkt. „Es geht dort geselliger, sozialer zu“, findet er. „Die Leute schauen nicht weg, wenn jemandem etwas passiert.“ Und wer genug Kapital mitbringe, könne dort durchaus recht angenehm leben.
Genau daran aber mangelt es den Mirsch-Radtkes. Zwar befindet sich ihr eigenes, bescheidenes Häuschen in Ghana derzeit im Aufbau. Genug Geld, um ein Geschäft zu gründen, haben sie aber nicht zurücklegen können. „Es wird schon irgendwie klappen“, hofft Kwame Radtke dennoch optimistisch. Seine beruflichen Kenntnisse werden ihn und die Seinen schon weiterbringen. Ob die in Deutschland aufgewachsenen Kinder auch so denken? Vorsichtshalber haben die Mirsch-Radtkes für alle Familienmitglieder deutsche Pässe beantragt. „Die Kinder sollen später einmal die Wahl haben, wo sie leben möchten“, erklärt Vater Radtke. „Aber auch wir möchten nicht vor der deutschen Botschaft Schlange stehen, nur weil wir sie in Berlin besuchen wollen. Ich habe immerhin zwanzig Jahre in Deutschland meine Beiträge geleistet. Und ich verdiene es nicht, daß ich um ein Visum betteln muß.“
Waltraud Ajanaku ‚/B‘* Namen von der Redaktion geändert
Die einstige Multikulti-Stimmung in Neukölln ist einer aggressiven Hackordnung gewichenIn der Hierarchie der Ausländerkinder stehen Maureen und Rose mit ihrer dunklen Haut weit unten
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