Existentielle Haarspaltereien: Der Fehler liegt nicht auf dem Kopf, sondern darin
■ Aus der lehrreichen sowie erbaulichen Lebensbeichte des Friseurmeisters Bruno Jablonski aus Bremen-Huckelriede / 2. Folge
Ein guter Friseur ist immer auch ein guter Gesprächspartner und ein guter Menschenkenner. Er muß aus wenigen Blicken, Worten und Gesten herauslesen können, wie es um seine Kunden bestellt ist. Auf Grundlage dieser Beobachtungen entscheidet er, welcherart die Konversation sein soll, die seine Tätigkeiten während der nächsten halben Stunde begleiten wird. Der feiste, strahlende Taxifahrer wird schon von Berufs wegen den Smalltalk bevorzugen, die unglückliche Hausfrau muß psychoanalysiert werden, dem schüchternen Kind wird, um es nicht noch stärker zu verunsichern, lächelndes Schweigen zuteil. In neunzig Prozent der Fälle erweisen sich die innerhalb der ersten zwanzig Sekunden gemachten Beobachtungen später als absolut zuverlässig. Bei den restlichen zehn Prozent wartet man noch eine Weile ab, beginnt das Gespräch tastend und fragend und weiß nach spätestens einer Minute, woran man ist. Mit der Wahrscheinlichkeit von vielleicht einem Promille allerdings weiß man dies auch nach dem Zusammenfegen der Haare noch nicht. Von einem solchen Kunden möchte ich berichten.
Vor etwa vier Jahren kam ein junger Mann in meinen Salon. Ich frisierte gerade einen anderen Kunden. Er nickte mir kurz zu und setzte sich in die Leseecke. Etwas an seinem Anblick hatte mich stutzig gemacht; es war nicht sein ungewöhnlicher Hut gewesen, auch nicht zuerst seine Augen oder sein kleiner Kinnbart, sondern vielmehr sein Mund, der sanft geschwungen war und eine Mischung aus Freundlichkeit und leisem Spott offenbarte. Interessiert beobachtete ich ihn aus den Augenwinkeln. Er griff sich eines der Boulevardmagazine vom Tisch, „Bunte“ oder „Vanity Fair“, und blätterte lustlos darin. Mit einem widerwilligen Seufzer legte er die Zeitschrift beseite und nahm sich an ihrer Stelle den Katalog mit den Frisuren vor. Nun zeigte sich Belustigung in seinem Gesicht, sein Lächeln wurde noch spöttischer, mal schüttelte er leicht den Kopf, mal lachte er kurz und verhalten auf.
Der andere Kunde bezahlte und ging, und ich bat den jungen Herren, im Frisierstuhl Platz zu nehmen. Unsere Augen trafen sich im Spiegel. „Wie möchten Sie sie geschnitten haben?“ fragte ich ihn. Er fuhr sich mit der Hand durch die leicht gekräuselten braunen Haare, deren Länge und Stumpfheit Pflege vermissen ließen. „Ich weiß nicht recht“, antwortete er, „machen Sie einen Vorschlag. Was würde Ihrer Meinung nach zu mir passen?“ Ich war ein wenig baff, denn es war ja gerade seine Einschätzung, die mir Probleme bereitete. Um nicht vorschnell etwas Falsches zu sagen, genehmigte ich mir eine Minute Bedenkzeit. „Sie haben ein schönes Gesicht“, sagte ich schließlich, „und einen schönen Kopf. Ein klassischer Schnitt, hinten leicht gestuft, den Nacken ausrasiert, die Seiten kurz, Stirn frei. Das würde zu ihnen passen. Aber ich fürchte“, fügte ich zögernd hinzu, nicht ganz im Klaren darüber, ob ich mir diese Keckheit erlauben sollte, „daß Ihnen diese Art von Haarschnitt zu gewöhnlich ist.“ Er lächelte, diesmal ohne Spott. „Möglich“, sagte er. „Schlagen Sie noch etwas vor.“ Nun wollte ich das andere Extrem erproben. „Ein Irokesenschnitt“, sagte ich, „vorne grün, hinten blau, in der Mitte liturgisches Violett.“ „Nein, nein“, winkte er ab, „auch den Protest hat die Gewöhnlichkeit mittlerweile vereinnahmt ... obwohl mir die unbewußt transportierte Botschaft des Punk nicht uninteressant scheint: Man wollte provozieren und nahm diesen Protest auf rührende Weise ernst, zeigte aber lediglich die Borniertheit einer Gesellschaft auf, die es für nötig hielt, sich über derlei Nichtigkeiten zu ereifern.“ Nun hatte er es geschafft, mein Ehrgeiz war geweckt, meine kreativen Kräfte brodelten bedrohlich unter der Schädeldecke. „Zwei Linien“, stieß ich hervor und kommentierte meine Überlegungen mit den Händen, „eine von der Stirn bis in den Nacken, eine von Ohr zu Ohr. Zwei Linien, vier Felder. Zwei diagonal liegende werden ausrasiert, ein Feld Dauerwelle, das andere Dreadlocks.“ Er schmunzelte. „Das ist eine hübsche Idee“, sagte er anerkennend, „aber eigentlich möchte ich Sie um etwas anderes bitten: Machen Sie Kunst. Variieren Sie die Mittel. Versuchen Sie nicht, um der Originalität willen originell zu sein. Arbeiten Sie wie im Traum, folgen Sie Ihren Impulsen. Bedauern Sie Ihre Fehler nicht. Der Fehler“, sagte er mit einem breiten Grinsen und führte den Zeigefinger an die Schläfe, „liegt nicht auf dem Kopf, sondern darin.“
Ich ließ diese Worte auf mich wirken. Dann griff ich bedächtig zur Schere und machte einen schüchternen Schnitt. Und noch einen. Und noch einen. Dann hatte der Traum mich gefangen. Ich arbeitete eine halbe Stunde lang wie besessen, schnitt, rasierte, toupierte. Mein Gast, denn er war mir mittlerweile eher Gast als Kunde, sah seine Haare in Büscheln zu Boden fallen. „Die Haare sind schon eine eigenartige Sache“, murmelte er. „Abgestorbene Zellen, ein Stück Tod mitten im Leben. Wir sind bemüht, den Tod, wo wir ihn antreffen, abzusondern, seine Spuren zu verwischen und seine Macht zu schmälern, dabei tragen wir ihn alle auf dem Kopf spazieren und pflegen ihn mit kostspieligen Essenzen.“ Er lachte kurz und bitter. Ich lachte mit ihm, denn in diesem Moment befand ich mein Werk für vollendet. Mir schien, es sah aus wie ein geschmolzenes Handballtor und eine verwaiste Meerwasserentsalzungsanlage, die sich in zärtlicher Eintracht umschlangen. Ich erzählte es ihm, er sah nachdenklich nickend in den Spiegel, zahlte und verließ noch immer nachdenklich den Salon. Mit ihm gingen die drei Kunden, die sich zwischenzeitlich eingefunden hatten. Ich ließ sie gerne ziehen; sie waren Banausen und verstanden nichts von Kunst. Das Gefühl einer großen, süßen Leere durchflutete mich, ich dachte an meinen Gast und erinnerte im selben Moment einen Satz von Hermann Hesse: „Das war es, was Traum und höchstes Kunstwerk Gemeinsames hatten: das Geheim-nis.“ Tim Ingold
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