Kommentar: Der Stachel ist gezogen
■ Bürgerbewegte räumen die Friedrichstraße
Am Ende hat alles wieder seine Ordnung. Die Erben der ostdeutschen Bürgerrechtsbewegung, die zwischen den Büros und Geschäften der Friedrichstraße mehr und mehr wie Fremdkörper wirkten, ziehen sich mitsamt ihrem Haus der Demokratie ins Szenereservat Prenzlauer Berg zurück. Den Vorposten im Regierungsviertel überlassen sie denen, die ohnehin die Macht haben im Land – den Beamten und ihrer Standesorganisation.
Der Vorgang ist symptomatisch für die Entwicklung des Ostens nach der Wende. Die Bürgerrechtler hatten das alte Regime zum Einsturz gebracht, die neue Macht aber fiel in die Hände der Beamten aus dem Westen.
Gewiß, die Staatsdiener haben damals nur das Machtvakuum gefüllt. Und die einstigen DDR-Oppositionellen marschierten nicht ohne eigene Schuld in die Bedeutungslosigkeit. Viele von ihnen blieben auf die Vergangenheit fixiert. Obendrein stellte sich alsbald heraus, daß den meisten Ostdeutschen das Materielle wichtiger war als die Demokratie.
Trotzdem bleibt es ein Beispiel großer Instinktlosigkeit, wie Beamtenbund und Treuhand-Nachfolgerin in einer konzertierten Aktion die letzte Insel im Glitzermeer der neuen Friedrichstraße hinwegspülten.
Die Funktionäre lassen sich offenbar nur ungern daran erinnern, wem sie ihre Besitzergreifung im Osten eigentlich verdanken. Da sind die acht Millionen Mark, die der Beamtenbund für den Zwangsumzug der Bürgerrechtler in den Hinterhof der Stadt bezahlen muß, nicht mehr als ein Feigenblatt für deren gezielte Vertreibung.
Keine Frage, daß sich beide Seiten rasch arrangieren dürften mit dieser Lösung der geringsten Widerstände. Jeder darf sich in sein Biotop zurückziehen: Die Initiativen aus dem Haus der Demokratie brauchen sich ihre Marginalisierung nicht mehr in der eigenen Straße vorführen zu lassen, und der Beamtenbund residiert an jenem Ort, der deutschen Staatsdienern schon immer der liebste war – in der Nähe zur Macht.
Dieser Kompromiß aber ist gerade deshalb faul, weil er der bequemste ist. Der Stachel ist gezogen – auch wenn es nur ein arg stumpfer Stachel gewesen wäre im gutgepolsterten Fleisch der Bürokratie. Ralph Bollmann
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