Zerstörte Lebenspläne

Erst wenn Japans Arbeitnehmer entlassen werden, merken viele, daß ihr Gesellschaftsmodell zu Ende geht   ■  Aus Yokohama André Kunz

„Die Kündigung kam wie der Blitz aus heiterem Himmel“, sagt Yoshiaki T., der bis zum 28. April als Finanzberater in Yokohama gearbeitet hat. Es war der letzte Arbeitstag vor der Goldenen Woche – der traditionellen Ferienwoche im Mai. Yoshiaki räumte in Vorfreude gerade seinen Schreibtisch auf, als er mit der gesamten Belegschaft um zehn vor fünf ins Sitzungszimmer gerufen wurde. Dort stand der Rechtsanwalt des Mutterkonzerns, einer der größten Banken Japans. Der Mann ließ sie Platz nehmen und las dann vor: „Gestern hat der Verwaltungsrat die Schließung dieser Filiale beschlossen. Sie sind per sofort entlassen. Leider kann das Unternehmen keine Hilfe für ihre kommende Arbeitssuche anbieten“. Ohne auf Fragen der konsternierten Belgschaft zu warten, verließ der Anwalt den Raum.

Mit Yoshiaki saßen 15 andere Mitarbeiter, auch seine Frau Sumiko, im Raum. Die beiden blickten sich entgeistert an, dann brach Sumiko in Tränen aus. „Was wird aus unseren schulpflichtigen Kindern, wenn wir arbeitslos sind?“ fragte sie. Die Goldene Woche wurde für die Familie zur Tortur mit schlaflosen Nächten. Sumiko mußte ihrem Mann Selbstmordgedanken ausreden.

Millionen von Japanern erleben derzeit ein ähnliches Schicksal. Die lang anhaltende Rezession hat die Arbeitslosenrate innerhalb eines Jahres von 3,2 auf 4,8 Prozent steigen lassen. Für die Japaner, die sich vor zehn Jahren weltweit als die Nummer eins unter den Industriestaaten und als Vorbild eines asiatischen Entwicklungswegs feiern ließen, sind diese Zahlen ein Schock. Sie rütteln an den Grundfesten eines Modells, das die Stelle auf Lebenszeit und altersabhängige Gehaltserhöhungen als alternativen Mittelweg zwischen den Wohlfahrtsstaaten Europas und dem leistungsorientierten angelsächsischen Modell anpries.

Verschwiegen wurde dabei, daß Japans Frauen seit jeher von diesem Modell ausgeschlossen waren. Arbeitsplatzsicherheit war ein männnliches Privileg, während Frauen in unterbezahlten Teilzeitjobs nicht einmal gegen Arbeitslosigkeit versichert sind. Verschwiegen wurde auch, daß kleine und mittlere Unternehmen nie die Sicherheit bieten konnten wie Weltkonzerne wie Toyota oder Sony. Nur rund 22 Prozent aller japanischen Arbeitnehmer konnten wirklich mit einer Stelle fürs Leben rechnen. „Der Mythos der lebenslangen Stelle wurde als gesellschaftliches Ziel geschickt nach innen und außen propagiert“, sagt ein Mitglied des linken Gewerkschaftsbundes Zenkoren.

Es waren Männer wie Yoshiaki, für die sich das traditionelle Modell auszahlte. Der 47jährige Finanzberater verdiente am selben Arbeitsplatz fast 70 Prozent mehr als seine 42jährige Frau Sumiko, die mit derselben Vorbildung einen gleichwertigen Job hatte. Er blickt auf 23 Jahre Betriebszugehörigkeit, seine Frau nur auf 8 Jahre zurück. „Für mich sagte die Firmenzugehörigkeit alles über meinen gesellschaftlichen Status aus“, sagt Yoshiaki rückblickend. Seine Frau dagegen verschwieg gegenüber Bekannten oft, daß sie arbeitete, weil dies für eine Mutter mit zwei schulpflichtigen Kindern nicht die Regel war. „Für mich war es eine zufriedenstellende Arbeit, mit der ich einen Beitrag zum Familienbudget leistete“, sagt sie.

Die Reaktion der Männer auf die neue Arbeitslosenwelle ist teilweise erschütternd. Nur wenige hundert Meter vom Arbeitsort von Yoshiaki und Sumiko nahm sich im März ein leitender Angestellter des Reifenherstellers Bridgestone nach einem heftigen Wortgefecht mit dem Vorstandsvorsitzenden durch Harikiri das Leben, indem er sich in ein Küchenmesser stürzte. Der Fall wurde in der Presse mit voyeuristischer Detailgenauigkeit aufgenommen und löste eine Welle neuer Selbstmorde aus.

Konträr zur derzeitigen Diskussion über die steigende Selbstmordrate unter den Japanern sagt Yoshitomo Takahashi vom Tokyo Research Institute of Psychiatry, daß die Zunahme der Selbstmordrate in Japan viel mit Nachahmung zu tun habe. „Suizidgefährdete Menschen werden von in den Medien aufgebauschten Selbstmordgeschichten in ihrem Vorhaben bestärkt“, meint Takahashi. Der Therapeut und Forscher spricht aus über zwanzigjähriger Erfahrung. Japan erlebte 1986, mitten in der Zeit der Hochkonjunktur, einen Selbstmordrekord von 25.524 Fällen, weil sich damals ein Jugendidol das Leben genommen hatte. 1998 stieg die Zahl der Selbstmorde allerdings gegenüber dem Vorjahr um 35 Prozent auf 31.734 Fälle. Takahashi sagt, spektakuläre Selbstmorde im Frühjahr 1998 hätten zu Nachahmungstaten veranlaßt. Seitdem reißen Selbstmordgeschichten in den Medien nicht mehr ab.

Takahashi bestreitet nicht, daß die Wirtschaftskrise auch ein entscheidender Grund für die Zunahme der Selbstmorde ist. Aber er sieht darin mehr ein Versagen des japanischen Ärztestandes und der Gesellschaft allgemein, die Symptome von Suizidgefährdeten nicht wahrnehmen wollten. „Japanische Allgemeinpraktiker erkennen oft wegen fehlender Ausbildung Schlaflosigkeit, zu hohen Blutdruck und Verstopfungen nicht als Streßsymptome, sondern verschreiben bloß Medikamente gegen das akute Leiden“, bemängelt Takahashi. Psychologische Beratung werde nur in wirklich ernsten Fällen verschrieben.

Es ist nicht erstaunlich, daß Männer über 45 am stärksten suizidgefährdet sind“, sagt Takahashi. Für die sei es undenkbar, in Streßsituationen zum Psychiater zu gehen, weil sie Angst hätten, vertrauliche Informationen würden an den Arbeitgeber gegeben und ihre Chancen auf Lohnerhöhung oder Beförderung so zunichte machen. „Psychiatrische Hilfe ist in dieser Gesellschaft stygmatisiert.“ Solange dieses Stygma aufrechterhalten bleibe, werde jede Krise zu höheren Selbstmordraten führen.

Yoshiaki standen glücklicherweise eine verständige Frau und Kinder zur Seite. Nach zwei Monaten intensiver Suche fand er über Kontakte einen neuen Job als Finanzberater und bildet sich in einem Kurs zum Buchhalter aus. Sumiko arbeitet vorübergehend als Gehilfin in einem Supermarkt.

Anders sieht die Situation für Mitarbeiter aus, die sich ein Leben lang für eine Firma aufopferten und sich dabei von den Verwandten entfremdeten. Für solche Männer ist es sehr schwierig, ihre Arbeitslosigkeit zu verkraften. Sie verheimlichen sie monatelang vor ihrer Familie und gehen in gewohnter Manier täglich mit Schlips und Anzug aus dem Haus, steigen in einen überfüllten Zug, um dann in einem der staatlichen Arbeitsämter Schlange stehend nach einer neuen Stelle zu suchen.

Ein deprimierendes Unterfangen. In Iidabashi, Japans größtem Stellenvermittlungszentrum in Tokios Innenstadt, ist eine gnadenlose Altersteilung zu beobachten. In einer fast menschenleeren Abteilung hängen Dutzende Stellenangebote für Arbeitskräfte unter 45 Jahren. Gleich daneben drängt sich ein Menschenknäuel um eine Handvoll Angebote für Männer über 45 Jahren. Augenkontakt wird vermieden. Hiromitsu Nakadomari, der Leiter der Vermittlungsstelle mit dem vielversprechenden Namen „Haro Waruku“ (Hallo Arbeit) blickt mit mitleidigem Blick auf die Schlange der Männer: „In dieser Reihe stehen eine Menge Männer, die in den nächsten Monaten oder Jahren keine Stelle mehr finden werden.“

Für einige von ihnen endet die beschämende Suche nach einem Arbeitsplatz in tragischem Selbstmord. Andere flüchten in das Obdachlosendasein entlang des Sumida-Flusses, doch die meisten von ihnen belegen irgendwann Fortbildungskurse, die seit kurzem vom Staat angeboten werden. Erst kürzlich bewilligte die Regierung umgerechnet 6,5 Milliarden Mark für die Schaffung neuer Stellen. Mehr als die Hälfte fließt in Schulen, die Fortbildungskurse für Arbeitslose anbieten. Die andere Hälfte wird für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen im öffentlichen Dienst benutzt. In diesem Jahr will die Regierung 300.000 Arbeitslose als Helfer in Schulen, in Umweltprojekten und für archäologische Ausgrabungen unterbringen. Leider sind diese Angebote auf ein halbes Jahr beschränkt, danach beginnt die Suche wieder neu.

Yoshiaki und Sumiko mißtrauten dem staatlichen Angebot von vornherein. Als Mitglieder der Firmengewerkschaft glaubten sie an die Verantwortung des Unternehmens, das sie auch in einer Krise unterstützen würde. Das gehört zum klassischen Lebensplan, den Japans Firmen ihren Angestellten versprochen hatten. Für die Hypothek auf das Einfamilienhaus der Familie bürgte das Unternehmen, und Yoshiaki hätten ab 2001 Ausbildungszuschüsse für die Kinder zugestanden. „Solche Zuschüsse habe ich verdient, schließlich arbeitete ich mehr als 15 Jahre für einen vergleichsweise niedrigen Lohn in der Firma“, sagt Yoshiaki. Er erhielt keine Abfindung. Sumiko konnte mit acht Betriebsjahren froh sein, daß sie zwei Monate die Hälfte des Lohns als Arbeitslosengeld erhielt. „Die zwei Monate Arbeitslosigkeit waren die schlimmste Zeit meines Lebens“, sagt Yoshiaki. Aber er hat gemerkt, daß es neben der Firma noch ein anderes Leben gibt. „Die Beziehung zu den Kindern ist tiefer geworden, und ich habe gelernt, frühzeitig über Probleme am Arbeitsplatz mit der Familie zu reden.“