Vom Erdenbürger zum Netizen
: Kinder sind ein teures Hobby

■ Eine eher emotionale Einführung in die Welt der neuen Netze in zehn Folgen / Letzte Lieferung: Das Glück auf Erden

Zur Erinnerung: Auf der Suche nach seiner Traumfrau war der Autor dank Internet, Mail und Chat beinahe fündig geworden. Über eine Kontaktanzeige im Netz hatte er Katharina aus Hamburg kennengelernt. Nach der Mail-Periode der beiden Turtelt§ubchen hatte sie ihn eingeladen, sie zu besuchen. Das ließ er sich nicht zweimal mailen, und so stieg er in sein Auto, um seinem Glück entgegenzufahren.

Ich hatte schon lange keine Tramper mehr mitgenommen, aber heute war ich in bester Stimmung. Ich hielt an der Autobahnauffahrt Vahr/Oberneuland und öffnete die Beifahrertür. Der Tramper wollte auch nach Hamburg, stellte sich als Claas vor und gab sein Alter mit 25 Jahren an. Nach den üblichen Konversationsbröckchen („heute sieht man nicht mehr so viele Tramper“, „wir sind früher per Anhalter durch ganz Europa gereist“, „Spanien war Scheiße“, „Frankreich ist im Hochsommer immer noch Scheiße“) erzählte ich von Katharina und dem bevorstehenden Rendezvous. Die gute Laune von Claas verschwand, und für einen Moment wurden seine Züge bitter und traurig zugleich.

„Das Internet ist voller gefährlicher Lügen“, sagte er und fragte, ob ich wisse, was mir bevorstehe. Ich antwortete, daß Katharina und ich unsere Lebensgeschichten schon in der Mail-Periode ausgetauscht hätten und mittlerweile sehr vertraut miteinander seien. „Ja“, sagte mein Beifahrer und machte ein wissendes Gesicht. Auch er habe sich einmal auf ein Blind Date eingelassen und sei fürchterlich enttäuscht worden. „Von deiner Internet-Bekanntschaft?“ wollte ich wissen. „Nein, von mir selbst“, gab er philosophisch zurück.

Näheres wollte er nicht erzählen, doch er warnte mich: „Deine Netz-Persönlichkeit unterscheidet sich vollkommen von deiner wirklichen. Auch wenn du glaubst, dich oder den anderen schon zu kennen, wirst du eine Überraschung erleben, und die Gefahr ist groß, daß es eine böse ist.“ Ich versprach, bei Gelegenheit darüber nachzudenken und ließ mir nicht anmerken, daß er meine Vorfreude auf die erste Begegnung mit Katharina getrübt hatte. Trotzdem verging die Fahrzeit wie im Fluge. Wir sprachen über Wahrheit und Lüge im Internet. Wir waren uns einig, daß es schnell keinen Spaß mehr macht, in andere Identitäten zu schlüpfen. Das Spiel mit der eigenen sei abenteuerlich genug, sagte ich, und er ergänzte: „Und gefährlich!“ Schließlich setzte ich meinen Beifahrer in Eppendorf ab und fragte mich: Wie sehr hatte ich Katharina belogen und wie sehr sie mich? Was wußte ich tatsächlich über sie, und wie gut kannte ich mich selbst?

Mein Herz schlug spürbar bis in die Schläfen. Immer näher rückte der Zeitpunkt unserer Begegnung, und für eine kurze Zeit war ich versucht, einfach umzukehren und das Geheimnis für immer Geheimnis bleiben zu lassen. Doch dann stellte ich mein Auto vor ihrem Haus ab, klingelte und stand wenig später vor ihrer Wohnungstür. Ich hörte Schritte auf einem Parkettfußboden. Katharina öffnete und lächelte. Ich hatte zwar schon Fotos von ihr gesehen. Doch im echten Leben war diese Frau so schön, daß mir schlecht wurde. Ich brachte kein Wort über die Lippen und machte nur Geräusche wie „mmmh“ oder „nnnkh“. Mit einer rauchzarten Stimme sagte sie: „Irgendwie habe ich Dich mir selbstbewußter vorgestellt.“ Anstandshalber lud sie mich noch zu einem Kaffee ein, und wenig später endete unsere erste (und letzte) Begegnung.

Nein, so ist es nicht gewesen.

Als Katharina die Wohnungstür aufsperrte, stand ein Wesen vor mir, das mit den gemailten Fotos überhaupt nichts zu tun hatte. Es wollte den Mund öffnen, um ein umfassendes Geständnis abzulegen, doch seinen Worten eilte eine Wolke voraus, der ich rückwärts zu entkommen versuchte. So etwas hatte ich in meinem ganzen durchschnittlichen Leben noch nicht gerochen. Es war, als wären unter dem Druck der Entzündungsherde sämtliche Kronen und Plomben in Katharinas Mund auf einmal abgesprungen (wenn sie überhaupt jemals welche hatte). Ich machte immer schnellere Schritte rückwärts, übersah den Beginn der Treppe, fiel, schlug mit dem Hinterkopf auf einer Betonplatte auf und starb wenig später im Krankenhaus.

Nein, so ist es auch nicht gewesen. Tatsächlich ging die Geschichte folgendermaßen aus.

Katharina und ich fielen uns in die Arme, und wir liebten uns auf dem Flur. Wenig später heirateten wir und mußten unsere Computer in Zahlung geben, weil Kinder ein teures Hobby sind und Fünflinge einem sowieso keine Zeit lassen, im Internet herumzusurfen. Vorhang. Christoph Köster