: Der Film bin ich
Neal Gabler beschreibt die Geschichte der amerikanischen Kultur als schöne, unterhaltsame Selbstinszenierung ■ Von Erhard Schütz
Zwar gibt es keine einheitliche Feldtheorie der amerikanischen Kultur, meint Neal Gabler. Aber wenn es eine gäbe, dann ginge sie sicher davon aus, daß die amerikanische Entwicklung im ausgehenden 20. Jahrhundert eher den Korrosionswirkungen der Unterhaltung als den Effekten von Politik und Wirtschaft zuzuschreiben ist. Kultur wird von Unterhaltung tyrannisiert, das Leben wird zum Film. Unterhaltung ist „grob, vulgär oder trivial“ und darum – nach seiner Umwandlung „in ein Unterhaltungsmedium“ – das Leben ebenso. So ist es, und so war es schon immer.
Was wir heute als neue Qualität des Qualitätsverlusts erleben, das hat sein Muster geradezu sinnbildhaft vor 150 Jahren: 1849 sollte im vornehmen Astor-Palace-Opernhaus Macbeth gegeben werden. Und zwar von W. Ch. Macready, einem britisch kühlen, aristokratisch wirkenden Schauspieler. Zur gleichen Zeit sollte E. Forrest, ebenso bekannt, aber Typus amerikanischer Kraftprotz und Großgestiker, in einem anderen Stück den Spartakus spielen. Beider Auftritt wurde von der Presse zum Kampf zweier nationaler Linien aufgeputscht. Anhänger von Forrest versuchten schließlich, das Astor Palace zu stürmen, das von der Miliz verteidigt wurde. Am Ende der Krawalle bilanzierte man zweiundzwanzig Tote und über hundert Verletzte, Opfer „im Kampf für die Unterhaltung“.
Unterhaltung war der Sieger. Hochkultur und ihr Publikum wurden zusehends marginalisiert. Forrest erhielt Rekordgagen und breitete sogar seine Streitigkeiten mit seiner untreuen Ehefrau von der Bühne herab öffentlich aus. Der Heftchenautor Net Buntline, einer der Initiatoren der Krawalle, brachte später Bill Cody als Buffalo Bill groß heraus, bis dieser von der Bühne wieder in den wilden Westen wechselte, wo er in theatralischer Kostümierung Heldentaten vollbrachte, die er dann auf der Bühne wiederum nachspielte. Er spielte sich selbst, wie er sich selbst spielte.
Damit hätten wir alle Elemente der nicht mehr endenden Geschichte beisammen: Unterhaltung ist das Neue, das in Form von Novitäten darüber hinweghilft, daß es nichts Neues mehr gibt – außer neue Medien. Also: Erst siegte die Unterhaltungs- über die Bildungskultur. Dann perfektionierte der Film die Unterhaltung, die in der Zeitung schon über die Information gesiegt hatte. Dann übernahmen Kunst, Politik und Wissenschaft die Muster der Unterhaltungskultur und wurden Gegenstand und Teil von Unterhaltung. Kennedy war ein Star, Reagan spielte Filmplots in der Politik, und Clinton ist der Chefentertainer einer Nation, in der jeder einzelne seine Fiktion zur Realiät macht: Selbstentertainer, Lebensfilmer und Eigenzuschauer.
Neal Gabler, der als Medienkritiker für die New York Times schreibt, erzählt uns diesen Weg als einen konventionellen amerikakritischen Hollywood-Film. Der Einstieg ist korrekt, also boshaft, sarkastisch, radikal in der Kritik. Der gewitzte Zuschauer kennt die Vorlage. Aber getreu dem Prinzip von Unterhaltung erhöht Gabler die „sensorischen Einsätze“. In diesem Falle dadurch, daß er intelligenter und differenzierter argumentiert als Neil Postman. Nach der Hochbelastung des Hirns durch Kopfschütteln folgt der zweite Teil des Films: Ausgebreitete Kampfhandlungen in allen möglichen Situationen. Hier die Entertainisierung von Malerei bis Finanzwirtschaft und Universitäten. Natürlich wieder mit schönen Gags und Stunts, aber doch als zunehmende Wiederholung und Verwirrung.
Und endlich: Der Auftritt des Helden. Es ist der Verrückteste selbst, der Prominente. Gablers Clou: Die zwei verschiedenen Koordinatensystemen der Amerikaner – Unterhaltung und Persönliches – kommen im Prominenten zur Deckung. Prominenz ist nicht Derivat von Unterhaltung, sondern selbst eine Unterhaltungsform. Prominent können alle werden, Madonna und Camilla Paglia, die über sie schreibt, O. J.Simpson und seine Verteidiger, selbst der Frisör von Prominenten.
Bei soviel Prominenz beginnt der Kampf um die prominentere Prominenz. Wer hält durch, wer steigert, wer verspielt, wer gewinnt sie wieder? Gablers Film wird wieder spannend. Liz Taylor spielt dabei ganz oben mit. Auch Bruce Willis, weil er erkannte: „Im Prinzip gibt es nur vier Geschichten, die sie über einen schreiben können: 1. Man taucht plötzlich auf. 2. Man hat Erfolg. 3. Man wird abgeknallt. 4. Man kommt zurück.“ Leider reduziert Gabler hier Willis Modell auf die archaische Trias des ausziehenden, abenteuernden und zurückkehrenden Helden. Dabei steht der mit seinem Viererschema doch in der Tradition von Vico und damit an der Seite von Northrop Frye oder Hayden White! Prominenz ist eine neue Spezies, die unter sich ums Überleben kämpft wie die prominenten Darwinisten Gould und Dawkins um die fittere Darwinismus-Theorie. Es überleben die Passenden. Aber was bleibt dann uns, den Alltagsmenschen? Sind wir nur noch Spielmaterial, Futter für die Avatare?
Nach solch banger Frage kommen Schluß und Trost: Wir sind allesamt Mitspieler! Eigentlich haben schon immer alle ihr Leben inszeniert. Seit „die Menschen die Macht der Selbstdarstellung und das damit verbundene Vergnügen entdeckten, vielleicht aber sogar noch eher“, haben sie ihre Lebensfilme inszeniert. Die ausgerotteten Indianer ebenso wie Abe Lincoln. „So lange es Religion und Ideologien gab, bestand wenig Bedarf an anderen plots.“ Aber nach deren Verkümmerung, „kam die schwere Aufgabe, den Phantasievorhang vorzuziehen, der Populärkultur und vor allem dem Kino zu“.
Wenn das Kino Metapher des modernen Daseins ist, dann ist der Kinogänger die Metapher für dessen Bewältigung. Jeder ist Regisseur und Besucher seines eigenen Films. Wir sind alle Lebensspieler – und auch in diesem Spiel überleben die Passenden. Also: Manche sind Blockbuster, manche Kassenflops, manche cineastische Geheimtips und manche Videos auf der Wühltheke. So kommen wir am Ende zur Gewißheit, „daß sowohl die Erzeugung von Unterhaltungsformen als auch die Verwandlung des eigenen Lebens in eine Unterhaltungsform Antworten gemäß Darwin waren“. Das Leben bleibt das Leben – auch als Film. Neal Gabler: „Das Leben, ein Film. Die Eroberung der Wirklichkeit durch das Entertainment“. Dtsch. von Monika Schmalz, Berlin Verlag, 1999, 320 Seiten, 39,80 DM
Seit die Menschen die Macht der Selbstdarstellung entdeckten, inszenieren sie ihre Lebensfilme
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen