: „Voll der Idiot, laß das mal an!“
■ Menschen aus dem Offenen Kanal: Matthias Bösche schlüpft jeden Samstag in die Rolle des Lionel Twain und klingt dabei wie Elmar Gunsch / Für ihn ist das Radiomachen ein Ausgleichssport, für seine HörerInnen ist es crazy
„Wie viele andere Leute wußte ich erstmal gar nicht, was das eigentlich ist“, beschreibt Matthias Bösche den Beginn seiner Liaison mit dem Radio. „Das passiert mir auch heute noch oft, wenn ich jemandem sage: Du, ich hab' heute diese Radiosendung auf dem Offenen Kanal. Dann schallt es einem entgegen: Tut mir leid, ich hab kein Kabel.“
Daß der Offene Kanal im Radio auch über Antenne zu empfangen ist, scheint auch nach ein paar Jahren noch nicht allzuviele Radiohörer erreicht zu haben. Matthias zog es vor, seinem Nichtwissen tatkräftige Abhilfe zu verschaffen. „Ich bin irgendwann hingegangen und habe den technischen Einführungskurs fürs Radio gemacht, der in einem Nachmittag abgehakt ist, und dachte: Okay, das ist etwas, was ich noch nicht gemacht hab'. Wie eine Freundin mal gesagt hat: ,Mach' alles, was du machen kannst, es macht dich nicht dümmer.' Ich wollte das einfach mal ausprobieren. Und ich bin sowieso jemand, der sich gerne produziert.“
Vor etwas mehr als einem Jahr ging er das erste Mal auf Sendung, nachdem er die vorgeschriebenen Vorproduktionen aufgezeichnet hatte. Ein bunter Mix aus Filmausschnitten, Musik zwischen Krach und Muzak, von kruden Hits der Achtziger bis hin zu avancierter Rockmusik von Mr. Bungle ist da zu hören. Und zwischendurch, ganz ohne Script und Plan, gibt sich Matthias Bösche als „Lionel Twain“, der sich der Bandbreite seines Musikprogramms auch stimmlich nähert, wenn er sie nicht transzendiert. Er schreit, flüstert oder säuselt sonor ins Mikrophon wie Elmar Gunsch.
„Wenn ich in dieser kleinen Box sitze, kann ich auf die Kacke hauen, da kann ich herumschreien, da kann ich machen, was ich will.“ Deshalb macht er das auch lieber allein. Um spontane Einfälle sofort umsetzen zu können. „Daß ich im Augenblick entscheiden kann, daß ich jetzt auf das Raummikrophon gehe und anfange, rumzuschreien: WAS WOLLT IHR HÖREN? MAOAM!“
Die Unvorhersehbarkeit, die seine Sendung auszeichnet, ist sicher auch ein Merkmal des OK-Programms. „Du kannst nicht vorhersagen, was kommt. Das ist sicher eine Qualität des Offenen Kanals“, meint Matthias, der selbst eher selten zuhört. „Ein guter Klavierstimmer muß ja auch nicht Klavier spielen können. Das ist aber schon auch ignorant“, gibt er zu. Über seine Zuhörer weiß Matthias genausoviel oder -wenig wie alle, die im Offenen Kanal senden. Es gibt nämlich keinerlei brauchbares statistisches Material zur Ermittlung von Quoten. Nur von Anrufern erfährt er etwas über seine Zuhörer.
„Es gibt Stammhörer, die meine Sendung regelmäßig hören, obwohl ich damit in Konkurrenz zu einigen Happy Hours trete. Das bringt mich zu einer anderen Gruppe von Leuten, die zu Hause sitzen und nachher vielleicht noch ins Capitol fahren und vorher in der Präparty-Zeit Radio hören. Die sagen sich vielleicht: ,Mensch, das ist ja voll der Idiot, laß mal an!' Und die dritte Gruppe sind Leute, die abends nicht mehr weggehen, weil sie zwei Kinder haben und dann beim Kochen den OK hören.“
Wie viele Leute zuhören, ist auch nicht so wichtig.
„Es ist völlig okay, wenn ich die Sendung für fünf Leute mache. Fünf Leute eine Stunde lang zu fesseln, ist besser als zu Hause zu sitzen und Comics zu lesen oder im Internet zu surfen und jemandem zu erzählen, daß du in Wirklichkeit einsachtzig bist und blond und Siegfried heißt und auf Wagner stehst.“
Immerhin erzählt der 26jährige Kunststudent mit Schwerpunkt Zeitmedien, also Medien, die sich mit der Zeit verändern, wie Film, Video, CD-Rom, den Leuten, daß er Lionel Twain ist, eine Figur aus Robert Moores Film „Eine Leiche zum Dessert“, die von Truman Capote verkörpert wird.
„Für mich ist das Radiomachen im Verhältnis zu meinem Studium, wo ich eher versuche mit Inhalt und Aussage zu arbeiten, wie ein Ausgleichssport. So wie Tennisspieler, die zum Ausgleich Basketball spielen, um andere Muskelgruppen zu belasten.“
Es gibt aber doch ein Vorhaben, das den Klavierstimmer Lionel Twain mit dem Tennisspieler Matthias Bösche zusammenbringen soll.
„Kann man Kunst im Radio machen? Kann man im Radio eine Arbeit schaffen, die nur dort möglich ist, mit diesem Live-Charakter. Mit Ton, aber ohne Bild. Das wäre etwas, was ich gern ausprobieren würde.“ Andreas Schnell
„Lionel Twain's Continent of Stromgitarren and more“ ist jeden Samstag, also zum Beispiel auch heute, von 20 bis 21 Uhr auf dem Offenen Kanal Bremen, 92,5 Mhz, zu hören.
Am Mittwoch, 11. August, dem Tag der Sonnenfinsternis, geht Bösche auf TV: Unter dem Titel „Die Sonne, die Sie nicht sehen werden“ zeigt er ab 10.44 Uhr drei Stunden und 45 Minuten lang Kurioses zum Thema des Tages (Offener Kanal TV auf Kabelkanal 11).
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