Der erleuchtete Flaneur

■ Im kleinen Kupferstichkabinett zeigt die Kunsthalle einen Großteil ihres Bestandes des Nabis-Mitglieds Pierre Bonnard

Also auch Toulouse-Lautrec. Nichts als ein elender Plagiator. Eines seiner Werbeplakate ist zur Zeit im Vorraum zum Kupferstichkabinett der Bremer Kunsthalle zu sehen. Gemacht hat es allerdings Kollege Pierre Bonnard. Eine riesige Wolke aus Sektschaum umhüllt darauf im Dienste irgendeiner Champagner-Marke ein beachtliches Dékolleté, an dessen oberen Ende sich ein Turmbau aus Haaren über einem Punkt-Komma-Strich-Gesichtchen munter kringelt. Dies beschwipste Dékolleté beeinflusste gleich zwei Biografien ganz erheblich. Die 100 Franc, die Bonnard 1889 dafür bekam, flößten ihm soviel Mut ein, dass er seinen Juristenberuf an den Nagel hängte und fürderhin der Existenz eines freien Künstlers fröhnte. Toulouse-Lautrec wiederum war so bezaubert von Bonnards Champagnerbad, daß er sich daraufhin selbst dem Metier der Plakatgestaltung zuwandte. Große Teile seines künftigen Lebenswerks stellen eine Art Variation von Bonnards „Anfänger“-Arbeit dar.

Ein anderes lebensentscheidendes Werk ist leider nicht im dunklen Loch Kupferstichkabinett zu sehen. Es heißt „Der Talisman“ und stammt von Paul Sérusier. Der besuchte während einer Bretagnereise 1887 einen Tag lang Paul Gau-guin in Pont-Aven und malte unter dessen Anleitung ein Waldstück, und zwar nicht so wie er es sah, sondern wie er es mit dem Herzen fühlte: nämlich als Gebilde aus großen, fast schon abstrakten Flecken in Gelb, Blau und Rot, die ohne alle Zwischentöne so strahlen, als wären sie von einem Mondrianbild heruntergesprungen. „Ein Bild ist – bevor es Schlachtroß oder nackte Frau darstellt – vor allem eine plane Fläche, die in einer bestimmten Ordnung mit Farben bedeckt ist“, dichtete der 20jährige Maurice Denis drei Jahre später – und ärgerte sich im Alter darüber, dass er sich immer wieder diesen Satz aus seiner Jugend anhören mußte.

Dieser „Talisman“ sollte zum Wahrzeichen der jahrs darauf gegründeten Künstlergruppe Nabis werden. Nabis leitet sich aus dem hebräischen Wort für „Prophet“ oder „Erleuchteter“ ab. Und „Tempel“ nannte die Gruppe um Sérusier und Denis das Zimmer im Atelier Paul Ransons, in dem man sich traf. Sérusier neigte der Theosophie zu, malte züngelnde Feuerflammen, die durch ein Waldstück tanzen, verpasste Paul Ranson auf einem Porträtbild schon mal einen Bischofsstab mit mysteriösem Stern und schmückte seinen Hals mit dem Kreis der Sternzeichen. Und Ranson wie Denis versuchten sich an Neudefinitionen christlicher Themen.

Das Gros der Nabis (Edouard Vuillard, Felix Vallotton, später auch der Malerbildhauer Aristide Maillol und eben Bonnard) huldigte aber dem Alltag, wie die Impressionisten vor ihnen: Straßenszenen, mal mondän, mal quirlig, die Familie im Paradies des eigenen Garten, tänzelnde Wellen mit Booten, der gedeckte Esstisch (bei Bonnard sehr formbewußt und gar nicht hungrig „Die weisse Tischdecke“ oder „Die karierte Tischdecke“ tituliert), Spaziergänger im Park, die Wäscherin und Akte, Akte, Akte.

Gefördert wurde Nabis vom Galeristenverleger Ambroise Vollard. Neben Sammelmappen publizierte der 1899 auch Bonnards Litho-Serie „Quelques aspects de la vie de Paris“. Bereits neun Jahre später erwarb Gustav Pauli ein Exemplar für die Kunsthalle. Die setzt nun ihre lockere Reihe zum Schwerpunkt ihrer Besitzstände „Franzosen des 19. Jahrhunderts“ nach Gericault und Delacroix mit Bonnard fort. Schließlich ist man im Besitz von 80 seiner Grafikarbeiten. Und das sind immerhin 90 Prozent.

Der Ausstellungstitel deckt sich mit Bonnards Spitznamen: „Le Nabi japonard“. Auf Fotos von Bonnards Ateliers sind japanische Holzschnitte an den Wänden zu sehen. Und Maurice Denis besaß deren siebzig Stück. Die wechselhafte Perspektive der japanischen Kunst, die Dominanz der Kontur gegenüber dem Volumen, das Desinteresse an Raumtiefe und die knochenlosen fließenden Körpersilhouetten waren den Franzosen hilfreich, um sich vom Diktat der Wirklichkeitstreue zu befreien.

Die Ausstellung zeigt aber nicht nur jene Flächigkeit, die man an Gauguin und den Japanern bewunderte. Daneben gibt es auch die flirrende, flackernde Schwerelosigkeit, nach der die Impressionisten suchten: aufgebrochene Linien und luftige Schraffuren. Nicht nur thematisch, sondern auch formal war die Gruppe der Nabis eher heterogen. Sind die Flächen bei Vallotton so akkurat, als wären sie lackiertes Autoblech, pulst und flimmert es bei Vuillard und Bonnard zumeist. Bei zwei Grafiken braucht es sogar einige Anstrengung, um im Gestrichel ein Männergesicht bzw. eine Dame auszumachen.

Nach der Jahrhundertwende verlor Bonnard allmählich das Interesse an der Grafik. Vielleicht lag es daran, daß ihn ausschweifende Reisen von seinem Leib-und-Magen-Drucker entfernten. Vielleicht befriedigte aber auch einfach die Farb-lithografie mit ihren bescheidenen drei oder vier Druckplatten nicht mehr sein Bedürfnis nach atmenden Flächen und unendlichen farblichen Zwischentöne voller elektisierender Reibereien nahverwandter Farben.

Bonnard, der bis zu seinem Tod 1947 einigermaßen erkennbar Ehefrau Marthe, Fensterblick und Interieur, Ehefrau Marthe, Fensterblick und ... malte, wurde von Picasso als Sklave der Natur beschimpft. Doch Ausstellungsmacherin Anne Buschhoff warnt davor, ihn als Spät-impressionisten zu verschubladen. Ihr Benennungsvorschlag: Postimpressionismus. Denn in Farbe und Form sei er seinen eigenen Weg gegangen. Die letzte Grafik, die – wieder mal – eine Nackte beim Bad zeigt, könnte mit Wasserornament und unorthodoxem Körperbau (Brust direkt über dem Nabel) sogar fast von David Hockney sein.

bk

Bis 3. Oktober in der Kunsthalle