: Der Blick von innen
■ Serbische Wissenschaftler fragen nach der Verantwortung Serbiens für den Krieg
Für die Übersetzung dieses Buches kann man den beiden deutschen Herausgebern nicht genug danken. Mit „Serbiens Weg in den Krieg“ ist eine der wichtigsten serbischen Publikationen zum jugoslawischen Staatszerfall auch deutschsprachigen Lesern zugänglich gemacht worden.
Die meisten AutorInnen arbeiten nach wie vor an den Einrichtungen der Belgrader Universität und der Serbischen Akademie der Wissenschaften und Künste (Sanu). Unter ihnen viele bekannte Namen: die Historikerin Latinka Perovi, in den 70ern der liberalen serbischen Parteiführung zugehörig, der Anthropologe Ivan Colovic, dessen Buch „Bordell der Krieger“ (dt. Ausgabe 1994) noch immer ein Geheimtip ist, die Soziologin Vesna Pesic, früher Vorsitzende des Bürgerbündnisses Serbiens. Insofern kann der Band als Wortmeldung der antichauvinistischen serbischen Wissenschaft gelesen werden. Es gibt diese Wissenschaftler, auch wenn sie für Institutionen tätig sind, die – zu Recht – als Hort des Nationalismus verschrien sind.
Die 25 detaillierten Aufsätze bündeln entscheidende Probleme der Jugoslawien-Forschung. Im ersten Teil werden die „historischen Lasten“ der serbischen Gesellschaft thematisiert. Olga Zirojevic widmet sich in ihrem Beitrag „Das Amselfeld im kollektiven Gedächtnis“ der historischen Genese des Kosovo-Mythos, auf den Miloševic in den 80ern zurückgriff, nachdem er dreißig Jahre fast gänzlich aus dem gesellschaftlichen Diskurs verschwunden war. Sie stellt seine volksliterarischen sowie kirchlich-mystischen Ursprünge und seine Transformation zu dem serbischen Nationalmythos im 19. Jahrhundert dar.
Der Volkswirtschaftler Ljubomir Madjar versucht die Frage nach den quasi kolonialen Verhältnissen innerhalb der jugoslawischen Wirtschaft, die sich im Laufe der 70er in acht Subökonomien spaltete, zu beantworten. Dies muss misslingen, da bisher dazu kaum Forschungen vorliegen. Majdar macht aber die Problemlage deutlich. Interessant ist der Beitrag von Marina Blagojevic. Diese Autorin hatte noch in den 80ern die nationale Hysterie über den angeblichen „Genozid'“ an den Kosovo-Serben wissenschaftlich unterfüttert. Sie beschäftigt sich – wie zehn Jahre zuvor – mit der serbischen Abwanderung aus Kosovo seit 1968. Blagojevic bleibt bei ihrer These, dass vor allem nationaler Druck von albanischer Seite zur serbischen Auswanderung geführt hätte. Sie kommt aber letztlich zu einem vermittelnden Schluss: „Keine der beiden Volksgruppen (Serben und Albaner) wünscht sich ernsthaft ein engeres Zusammenleben.“ Ein Vergleich der heutigen und der damaligen Argumentation der Autorin wäre sicherlich lohnend.
Die folgenden Aufsätze bieten eine breite akteurs- und institutionenbezogene Analyse der serbischen Nationalbewegung der 80er. Dabei werden der ethnozentristische Diskurs der Sanu, der orthodoxen Kirche, des Schriftstellerverbandes, der KP (und der späteren Sozialisten) und der Medien detailliert nachgewiesen. Das Fazit dieser Lektüre: Der Ethnonationalismus ist tief in der serbischen Gesellschaft verwurzelt und Miloševic eben nicht sein Urheber. Vesna Pesic bilanziert: „Den Krieg um die Veränderung der Grenzen zwischen den Republiken und die Vertreibung der anderen ethnischen Populationen hat die politische Führung Serbiens begonnen, um einen serbischen Nationalstaat zu schaffen.“ Man muss hervorheben: begonnen.
Auch wenn manche Antworten nicht endgültig gesichert sind, der Leser wird in die Sachlage kompetent eingeführt. Kurzum: ein wichtiges Buch über die jüngere Geschichte Jugoslawiens.
Heiko Hänsel ‚/B‘ Thomas Bremer, Nebojsa Popov, Heinz-Günther Stobbe (Hrsg.): „Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung“. Verlag Arno Spitz, Berlin 1998, 528 Seiten, 98 DM
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