Kommentar: Erben ohne Leiche
■ Gysis 12 Punkte und die Sozialdemokratisierung der PDS
Erben ist heute in Deutschland das zweitwichtigste Instrument privater Reichtumsvermehrung. Aber wie steht es mit der Erbschaft an politischen Ideen und Organisationen? Auf den ersten Blick günstig: Im Gegensatz zum privaten Recht kann der Erbe selbst entscheiden, welche Erbstücke ihm passen. Auch die PDS will Erbe werden. Ihr Problem besteht darin, dass der Erblasser, die Sozialdemokratische Partei, noch lebt. Infolgedessen erweist es sich für die PDS als notwendig, die SPD für tot und sich selbst für die eigentliche, die wahre, neue SPD zu erklären.
Das ist der Kern von Gregor Gysis 12-Punkte-Erklärung. Was aber will die PDS von der Sozialdemokratie erben? Nur das Beste (siehe oben), und das ist natürlich die soziale Gerechtigkeit. Aber wie kann ihr zum Durchbruch verholfen werden? Kommt etwa die Rettung wie vormals das Verderbnis aus einer bestimmten Weltgegend, nämlich von der Saar? Vorsicht! Oskar Lafontaine ist im Gegensatz zu Erich Honecker nur scheintot. Plötzlich weilt er wieder unter uns, belebt den linken SPD-Flügel und macht damit die ganze Erbschaft der PDS zunichte. Deshalb ist Gysi auch ein vorsichtiger Erbe. Beispielsweise will er auf keinen Fall den sozialdemokratischen Etatismus beerben. In der Sprache des Godesberger Programms hieß es noch „So viel Markt wie möglich, so viel Planung wie nötig“. Gysi signalisiert in seinen 12 Punkten Zustimmung zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen und wirft auch bei der Frage privater Rentenvorsorge sozialdemokratischen Ballast über Bord. „Überholen ohne einzuholen“, nannte dieses Manöver einer von Gysis politischen Vorgängern in der verblichenen SED. Der allerdings nicht von der Saar, sondern von der Pleiße stammte.
Gysis „moderner Sozialismus“ ist programmatisch ungefähr so aussagekräftig wie Schröders/Blairs Neue Mitte. Wäre die Kritik an der Staatsfixiertheit der alten SPD ernst gemeint, so müssten jetzt diejenigen Programmbausteine zusammengesetzt werden, die aus dem Material der Selbsttätigkeit und der Selbstorganisation hergestellt worden sind. Sie allerdings entstammen nicht der deutschen Produktion und wären kaum nach dem Geschmack der PDS-Klientel. Aber noch sind die 12 Thesen ja nicht erschienen, nur lanciert. Nicht das Programm – das „Event“ entscheidet. Christian Semler
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen