: Querspalte
■ Luftig-leicht
Die vorpommersche Küste. Eine Landschaft, wie sie von allen guten Katholiken verlassener nicht sein könnte. Brutstätte allenfalls heidnischer Rituale. Auf einigen Dörfern ist gerade wieder das „Tonnenabschlagen“ im Schwange: Meist jugendliche Reiter zertrümmern aus vollem Galopp mit Keulen, die man auch für Baseballschläger halten könnte, ein Holzfass, das an einer Art Galgen hängt. Ein nicht mehr ganz unschuldiger Anblick.
Im Publikum dann auch einige sehr verwegen anmutende Gestalten, die sich vielleicht gerade überlegen, ob diese Volksbelustigung nicht auch aus einem BMW-Fenster an Leuten auszuprobieren wäre. Wenn der gottesfürchtige Mensch hierher zum Bade schreitet, geht es womöglich nicht ohne Glaubenskonflikte ab. Im nächsten, dem zehnten wieder vereinigten Sommer feiert denn auch das Medienthema „Nackt-Krieg an der Ostsee: Jeder vierte Tourist badet ohne – Badehosen-Urlauber empört“ (Bild, 15. Juli 1999) bzw. „Besucher aus dem Westen stören sich an den eingeborenen Nackten“ (Stern, 29. Juli 1999) seinen zehnten Geburtstag. Denn Chefredakteure lieben solche Storys. Sie sagen: „Luftig-leichte Sommergeschichte. Sexy. Steht uns gut zu Gesicht.“ Allerdings donnerte ein lokaler Radiomoderator vergangene Woche, jetzt sei es langsam genug mit baumelnen Hoden und Möpsen wie leeren Woolworth-Tüten. Fortan wolle er nie wieder Primärgeschlechtsmerkmale in den Mund nehmen.
Vielleicht sollte man, um einen Ermüdungsbruch der Tradition zu vermeiden, ihr zum Jubiläum 2000 eine etwas philosophischere Dimension verleihen, etwa: „Iiieeks! Wahnsinniger Westmann (am besten Dieter Zurwehme, wenn er dann schon wieder Hafturlaub hat) säbelte exhibitionistischer Zonentussi alle vier Brüste ab und warf sie ins Meer; Badehosen-Urlauber empört: Sie dachten, es wären Quallen!“ Abschließend noch ein luftig-leichter Ferientip an alle autonomen Frauengruppen, ein Lockruf auch in die sexy Diözesen und Erzbistümer unserer schönen Heimat: „Am 4. August ist Tittenwahl“. So steht es mit Kreide auf einer großen Tafel am Sportpalast Ribnitz-Damgarten. Kommt alle! André Mielke
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen