Ausnahme-Athletin im Dauerlauf

■ Hamburger „Iron Lady“ Jeannine Rathjen will zum zweiten Mal ins „Guinness-Buch“. Der Start bei den HEW-Cyclassics am übernächsten Sonnabend ist da das richtige Training

Wenn am übernächsten Sonnabend der Startschuss zu den „HEW-Cyclassics“ fällt, geht auch eine der erfolgreichsten deutschen AthletInnen an den Start. Die 33-Jährige Jeannine Rathjen, Deutschlands beste behinderte Marathonläuferin, wird auf dem Rad teilnehmen. Ihr nächstes Ziel aber ist ein „Iron Man“ im Triathlon (Laufen, Schwimmen, Rad fahren). Und dafür kommen ihr die „Cyclassics“ als Training gerade recht. Doch wenn sie am Montag nach dem Radrennen die Zeitung aufschlägt, wird wohl wieder nur von Jan Ullrich und den anderen „gesunden“ Stars die Rede sein.

Mit 19 Jahren passierte es: Ein Unfall verursachte eine schwere Thrombose, ein „Compartmentsyndrom“ prägt seither Jeannines Alltag. Der rechte Fuß ist seit diesem Tag vollständig gelähmt. Sie würde über ihn stolpern, hätte sie nicht eine spezielle Lauftechnik entwickelt: Das Bein setzt sie so auf, dass die Fußspitze den Untergrund nicht berührt. Der Bewegungsablauf ist so ausgereift, dass PassantInnen kaum auf den Gedanken kommen würden, eine „Gehbehinderte“ würde vorbeijoggen.

„Patienten mit einer Fußheberlähmung haben schon Schwierigkeiten, koordiniert zu gehen, geschweige denn zu laufen“, stellt ihr Arzt dazu fest. Dr. Gerold Schwartz ist die Bewunderung für die Leistungen seiner Patientin anzuhören: „Sie hat schon einen Hundert-Kilometer-Lauf überstanden und das in einer Zeit von elf Stunden. Das ist unfassbar.“ Umso mehr, als sie ihre Karriere erst am 27. April 1997 begonnen hat. An diesem Tag startete in Hamburg ihr erster Marathon. Weitere 85 liegen inzwischen hinter ihr. Allein im ersten Jahr ihrer Karriere lief sie 42 Marathons – eine Marke, die ihr den Eintrag ins „Guinness“-Buch der Rekorde einbrachte. Nie hatte ein Mensch – ob behindert oder nicht – im Debutjahr häufiger die Ziellinie eines Laufes über 42,195 Kilometer überquert. Weitere Höchstleistungen folgten: So belegte die „Ausnahme-Athletin“ (NDR) bei den Deutschen Meisterschaften über 100 Kilometer Platz 24, „bei den Gesunden“, wie sie betont.

Heute spricht sie mit Zufriedenheit über sich – auch das Ergebnis einer Willensstärke, die sie nicht immer auszeichnete. In den ersten Jahren nach dem fatalen Unfall fiel die gelernte Bürokauffrau „in ein schwarzes Loch“. Private Krisen traten auf, wie die Trennung von ihrem Freund, im Mai 1995 wurde sie auch noch arbeitslos: „Ich wusste nicht mehr, wie ich mein Leben meistern sollte.“ Nach einem Blick in den Spiegel („Ich war richtig fett“) folgte der Entschluß, mit dem Lauftraining zu beginnen: „So konnte es nicht weitergehen.“

Heute hat sie ihren Körper im Griff, hat sich, so ihr Arzt, „wie Münchhausen an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen“. Was ihr jetzt noch zu schaffen macht, ist beispielsweise die Ignoranz der Öffentlichkeit: In Hamburg wird alljährlich die „SportlerIn des Jahres“ gekürt: Geehrt wurde sie noch nie, hinter den Sandra Völkers und Tony Yeboahs der Hansestadt verblasst ihr Stern offenbar. Dass sie jedoch noch nicht einmal zu den Feierlichkeiten eingeladen wurde, wurmt sie schon eher.

Überhaupt scheint anderorten das Bewusstsein für die Leistungen behinderter SportlerInnen ausgeprägter: „Die Vereinigten Staaten sind da viel weiter als wir. Von den Bedingungen dort kann man hier nur träumen.“ So starteten dort die Behinderten eine Stunde vor den Nichtbehinderten, in Deutschland ist es umgekehrt: „Es dauert manchmal eine Viertelstunde, bis man die Startlinie überquert.“ Überhaupt: „Deutschland ist knallhart. Ich bin schon oft von Zuschauern beschimpft und ausgelacht worden.“ Trotz solcher Widrigkeiten hält Jeannine an ihren Zielen fest. Als nächstes hat sie Joe Kelly, dem Mitglied der gleichnamigen Posthippie-Heimsuchung, den Kampf angesagt: Der Barde lief schon sieben „Iron Mans“ in einem Jahr – was Jeannine zu überbieten gedenkt.

Wenn die Sponsoren mitspielen – die Kosten beziffert sie auf 50.000 Mark – könnte der nächste Eintrag der „Iron Lady“ ins „Guinness“-Buch auf achtmalige Überwindung der Tortur gründen: „3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und ein verträumter Marathon hinterher.“

Christoph Ruf