: „Wir haben die größten Eier“
Die Hertha-Fans sind im blau-weißen Fußballtaumel, doch viele beklagen die Kommerzialisierung ihres Vereins: Gartenzwerge, Trikots und Zahnbürsten in den Clubfarben ■ Von Philipp Gessler
Olaf Hünerbein ist nicht schnell genug. Dabei steht der 29jährige BWL-Student schon seit mehr als einer Stunde hier vor der Geschäftsstelle des wichtigsten Berliner Fußballvereins: Hertha BSC. Er steht als erster in der Schlange, um ein Ticket zu ergattern, und dann wird er nur zweiter Sieger. Als sich um Punkt neun Uhr die Tore öffnen, huscht eine Frau im Dirndl an ihm vorbei zur Kasse und kauft drei Karten – nicht einmal für sich, sondern für die Familie ihres Sohnes. Irene Staude ist um Viertel vor sechs aufgestanden. Sichtlich zufrieden ist sie jetzt, trotz des stolzen Preises von 55 Mark pro Ticket: „Ich habe mit mehr gerechnet“, sagt sie.
Früh aufstehen, viel Geld zahlen – es spielt keine Rolle, denn es steht das seit Jahrzehnten größte Ereignis bevor: das erste Champions-League-Spiel des Traditionsvereins am kommenden Mittwoch. Es geht gegen Zyperns Meister Anorthosis Famagusta. Nicht gerade ein Knüller, aber das letzte Mal hat die Hertha 1979 international gespielt – und dazwischen lagen elende Jahre der Zweitklassigkeit, des Vereinskrachs, der Öde. Doch ein kleines Fußballwunder hat sich seit Mitte der 90er in der Hauptstadt abgespielt: ein rasanter Aufstieg von der Regionalliga über die zweite Liga in die oberste Spielklasse und dort auf Platz drei der Tabelle: Berlin im blau-weißen Taumel?
Zumindest bei den Angestellten der Geschäftsstelle mit dem herthablauen Teppich ist davon wenig zu spüren, schließlich geht es ums Geschäft. Zu kaufen gibt es, unter anderem, liegende oder stehende Hertha-Gartenzwerge für 79,90 Mark, Hertha-Trikots mit Autogrammen der Spieler für 154,90 Mark, „Hertha-Repräsentationsanzüge“ für 249, 90 Mark und Hertha-Zahnbürsten für 4,90 Mark, die billigsten Produkte. Der Umsatz ist jeden Tag „hoch vierstellig bis klein fünfstellig“, wie eine Angestellte sagt. Und es gibt noch das T-Shirt „Europa, wir kommen“ – eine Karte des Kontinents, umrahmt von EU-Sternen. Eine Hertha-Fahne ist darauf zu sehen, auf der Höhe von Kassel eingepflanzt. Die Hemden verkaufen sich so gut, dass sie nachbestellt werden mussten.
René Kalheit aus Ludwigsfelde trägt das T-Shirt. Er wartet in der Schlange in der Geschäftsstelle, gleich neben einer Vitrine mit der zweifelhaften Trophäe „Schwarzwald-Pokal“ und einem Bierglas mit der Aufschrift „Deutscher Meister 1930/31“. Ja, sagt er, er freue sich auf die Champions League, aber man habe da auch „umheimliches Glück gehabt“. Schon dreimal ist der 32jährige angereist, um Tickets zu bekommen – immer vergeblich, weil es noch keine Karten gab.
Kalheit ist Kellner, konnte wegen der Fahrten zur Geschäftsstelle immer nur fünf Stunden schlafen, und jetzt müsste er eigentlich schon wieder arbeiten. Aber der Chef habe Verständnis: „Das habe ich alles vorher geregelt.“ Es belastet ihn nicht, dass der Senat mit dem Einbau von Schalensitzen im Olympiastadion nicht nachkommt und das Spiel deshalb ausfallen könnte. Sozialhilfeempfänger solle man zum Einbau verpflichten, fordert er mit Fußballerlogik: „Die sollen schrauben für ihr Geld.“
Die Sitzkrise? Rudi, ein 36jähriger Unternehmer, winkt entnervt ab: „Kein Kommentar.“ Er sitzt mit André und Roman in „Kruse's Sport's Bar“. Chef ist der Ex-Hertha-Stürmer Axel Kruse, der bei der Apostrophsetzung ebenso treffsicher ist wie früher auf dem Spielfeld. Die Kneipe liegt unter den Gleisen des S-Bahnhofs Jannowitzbrücke mit Blick auf die Spree. Wenn die drei erfahrenen Fans über Hertha sprechen, geht es um Wichtigeres, um Grundsätzliches. Sie können sich das erlauben, denn sie tun was für ihren Verein. Als „Harlekins“, einem Zusammenschluss von 16 der 400 eingetragenen Hertha-Fanclubs, machen sie die Vereinsspiele zu Happenings in den Stadien.
Diese „Aktionen“, erklärt der Abiturient André beim fast zärtlichen Durchblättern eines Fotoalbums, bestehen etwa darin, mit Hilfe von Luftballons, die im Stadion verteilt werden, gemeinsam mit Hunderten Zuschauern Bilder oder Sprüche auf die Tribünen zu zaubern. In Italien oder Spanien, wo solche Stadionkultur sehr populär ist, beteiligen sich gar tausende daran – „Ultras“ werden die Fans, die das organisieren, genannt. Bei der Hertha sei die Beteiligung an solchen Darbietungen eher mäßig, räumen die drei ein: Da war es schon ein Erfolg, dass sie mitten im Winter eine Halbzeit lang mit nackten Oberkörper gejubelt haben. Auch eines ihrer Stadionspruchbänder – „Frohe Ostern, wir haben die größten Eier“ – sei selbst bei manchen Ultras anderer Vereine gut angekommen.
Vom Verein aber bekämen sie kaum Unterstützung, betonen die Fans – „aber wir machen es dennoch“, sagt Rudi trotzig. Die Vereinsoberen stört unter anderem, dass sie auch Rauchbomben anzünden. Da werde im Fernsehen oft von „unschönen Szenen“ gesprochen, während es bei italienischen Vereinen als „südländisches Flair“ durchgehe, schimpft Roman. Der 20jährige Abiturient ist Vorsitzender der Harlekins.
Die drei sind skeptisch über die Entwicklungen bei Hertha. Die Kommerzialisierung des Vereins stößt ihnen auf: Eine „richtige Vergiftung“, so nennt Rudi den Einfluss des großen Geldes beim Fußball. Aber das könne man nicht mehr zurückdrehen, erklären die Fans, und mit der Kohle des Sponsors, der UFA-Filmproduktionsgesellschaft, habe ja auch erst der Aufstieg der Hertha begonnen.
Und das Champions-League-Spiel? Die drei schwärmen von den alten Zeiten in der zweiten Liga, als sie noch mit ganz wenigen zu Auswärtsspielen gepilgert sind: „Wir haben damals fast den Schal versteckt.“ Das Spitzenspiel erwarten sie dennoch mit Freude, denn dabei können sie auch wieder ein Spruchband der Harlekins entrollen. Und vielleicht beklagt sich die Vereinsführung dann nicht gleich wieder darüber, dass das im Fernsehen von der Werbung an der Seitenbande ablenkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen