Forsch nach Den Haag

■  Die Schweizerin Carla Del Ponte wird neue Chefanklägerin des Jugoslawien-Tribunals. Sie ist als rücksichtslose Korruptionsermittlerin geschätzt und umstritten

Bern (AP) – Der Ruf als unabhängige und unerschrockene Mafiajägerin ging Carla Del Ponte voraus, als sie 1994 zur Schweizer Bundesanwältin berufen wurde. Fünf Jahre später fällt die Beurteilung der 52-jährigen Tessinerin zwiespältiger aus. Böse Zungen behaupten sogar, es überwiege die Erleichterung , dass sie vermutlich als neue Chefanklägerin an das UN-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien nach Den Haag wechseln wird.

Die Tessiner Juristin übernahm im April 1994 als erste Frau die Leitung der Bundesanwaltschaft in Bern. Sie stehe auf der Todesliste der Mafia, hieß es damals. Tatsächlich war Del Ponte im Juni 1989 an der sizilianischen Küste knapp einem Bombenanschlag entgangen, als sie wegen Geldwäscherei-Ermittlungen der Tessiner Staatsanwaltschaft beim später ermordeten Mafjajäger Giovanni Flacone war. Ins Bild der mutigen Kämpferin gegen das internationale Verbrechen passt auch ein Zwischenfall vom Juli 1996: Sie saß in einem Helikopter der kolumbianischen Drogenpolizei, als dieser von Rebellen beschossen wurde.

Schon als Tessiner Untersuchungsrichterin und Staatsanwältin erwarb sich Del Ponte in den 80er Jahren den Ruf einer konsequenten Kämpferin gegen die illegalen Finanzoperationen der italienischen Drogenmafia. In ihrer Funktion als Bundesanwältin kam eine umfangreiche Rechtshilfetätigkeit zugunsten der Mailänder Korruptionsermittler hinzu. Weltweites Aufsehen erregte Ende 1995 die Eröffnung eines Strafverfahrens wegen Finanzierung des Drogenhandels gegen Raul Salinas, den Bruder des mexikanischen Expräsidenten. Und in jüngster Zeit sorgte Del Ponte für Schlagzeilen, weil sie den bei Präsident Boris Jelzin in Ungnade gefallenen Generalstaatsanwalt Juri Skuratow bei Korruptionsermittlungen im Umfeld des Kremls unterstützte. Sie ermittelte auch gegen den Schweizer Generalstabschef Friedrich Nyffenegger wegen Korruption. Und sie brachte vier angebliche Schweizer „Freunde“ des Terroristen Carlos vorübergehend in Untersuchungshaft.

Allerdings – und hier setzt die Kritik an Del Ponte ein – ist viel im Sande verlaufen. Im Fall Salinas stellte die Bundesanwältin das Verfahren ein und wurde vor kurzem vom Bundesgericht wegen einer Kompetenzüberschreitung auch im Bemühen gestoppt, die auf Schweizer Bankkonten eingefrorenen Salinas-Gelder einzuziehen. Die Carlos-Ermittlungen sind auch fünf Jahre nach dem Beginn noch offen. In der Nyffenegger-Affäre kommt es im September zwar zum Prozess. Die Tragweite des Falles hat sich aber erheblich verkleinert.

Das eigenmächtige Vorgehen der geschiedenen Mutter eines erwachsenen Sohnes stieß auch bei Politikern und in der Verwaltung gelegentlich auf Unverständnis. Zur Finanzwelt hatte sie von Anfang an ein gespanntes Verhältnis. Mit den Medien ließ sich Del Ponte auf einen Kleinkrieg ein und zerrte trotz offensichtlichen Unbehagens von Justizminister Arnold Koller immer wieder Journalisten wegen Indiskretionen vor den Richter. Ein Bankenjurist bezeichnete die Bundesanwältin als „unguided missile“ (ungelenkte Rakete), als sie die Finanzwelt ohne Rechtsgrundlage aufforderte, Auskunft über Kontenbeziehungen von 63 Personen zu geben, die angeblich zum Umfeld der sizilianischen Mafia gehören. Die größere Sensibilität der Finanzunternehmen im Umgang mit kriminellen Geldern sei aber nicht zuletzt auf das forsche Vorgehen der Bundesanwältin zurückzuführen, halten ihr demgegenüber Strafrechtsexperten zugute. Balz Bruppacher