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„Tschüs, lieber 86er!“

Am Olympiastadion feierte die S-Bahn gestern ihren 75. Geburtstag. Alte Waggons und Triebwagen waren der Renner. Die Frage ist allerdings: Was ist nur schön daran?  ■   Von Philipp Gessler

„Ne Macke ham wa alle“, sagt Andreas Sprotte. Er lächelt. Der 33-jährige Maler ist Mitglied des Vereins „Historische S-Bahn“, seine Vereinsfreunde und er sind aufgekratzt. Es ist ein großer Tag. Die Berliner S-Bahn feiert ihren 75. Geburtstag, am 8. August 1924 fuhr erstmals eine Stadtbahn mit elektrischem Antrieb in der Hauptstadt. Jetzt wartet Sprotte mit seinen S-Bahn-Kumpels an den Gleisen auf den Höhepunkt der „Geburtstagsparty“ für die S-Bahn im Bahnhof Olympiastadion: die „Parade der Stars“.

Die besteht aus einem Korso von etwa einem Dutzend vor allem sehr alter Waggons und Triebwagen – rund 25.000 wollten sich das gestern anschauen. Was schön ist an der S-Bahn? Darauf hat Peter Teichmann, ein Vereinsgenosse Sprottes, sofort eine Antwort: „Das Zischen“, erklärt er. Der Mann ist gekleidet in das graublaue Hemd eines Oberamtmanns der Reichsbahn mit vier Pickeln am Schulterstück und einer ledernen „Ehrenlokführer-Mütze“ auf den weißen längeren Haaren. Dieses Pfeifgeräusch entstehe, wenn sich das Überdruckventil der alten Wagenbremsen entlüftet: „Schschsch“, intoniert Manfred Eichelbaum, Postbeamter a. D. mit drei Pickeln am Schulterstück. Und dann das Klappern: „Klack, klack, klack.“ In den alten Waggons, ergänzt Teichmann begeistert, rieche man noch den „Schweiß der Arbeiter“. Er selbst ist seit zehn Jahren arbeitslos.

So anschaulich kann das der Regierende Bürgermeister nicht nachmachen. Es ist so heiß, dass Eberhard Diepgen sein Jackett ausgezogen hat. Er liebe die alten Traditionswagen mit ihrer rot-ockergelben Lackierung, sagt er, da sei er „nostalgisch“. Dann geht der Politiker auf die Bühne vor den Gleisen und proklamiert, die S-Bahn sei wieder auf dem Weg, „das modernste Verkehrssystem“ zu werden. „Wir wären schon mit Mittelmaß zufrieden“, raunt Michael Cramer, Verkehrsexperte der Grünen, am Fuß der Tribüne. Man solle doch versuchen, schon bis 2001 den Nordring um die City zu schließen, mahnt Diepgen sich, die S-Bahner oder irgendwen.

Dann endlich die „Parade der Stars“: Dicht gedrängt stehen die Fans rechts und links vom Gleis 2, die Polizei hat Absperrungen aufgestellt, damit niemand allzu nahen Kontakt mit seinen Lieblingen bekommt. Stadtbahnen aus acht Jahrzehnten gleiten hintereinander langsam in den Bahnhof, halten kurz und rollen nach einem Hupen davon. Manche Modelle werden mit Klatschen begrüßt, sonst herrscht eine fast andächtige Stille. Ihm verschlage es fast die Sprache, brummt ein Moderator mit Märchenonkelstimme, als ein alter Hilfsgerätezug einfährt: „Genießen wir zusammen still diesen Anblick“, sagt er. „Tschüs, lieber 86er!“ Zum Schluss rollt der brandneue Panoramawagen ein, zu mieten für jedermann, mit viel Glas statt der üblichen rot-gelben Blechverkleidung. „Tja, der gefällt Ihnen“, ertönt gönnerhaft die Stimme. Es wird geklatscht.

Dann packen die S-Bahn-Fans, in der Mehrzahl Männer ab 30 oder Kinder unter 12, ihre Fotoapparate weg und gehen zum Souvenir- oder Würstchenstand. Christoph Lindner und René Czech, beides Lehrlinge bei der S-Bahn, laufen Richtung Ausgang. Schön an den S-Bahnen, erklären die 18-Jährigen, seien vor allem die alten Züge vom Typ „Stadtbahn“, das seien eben „Kultobjekte“.

Dem kanadischen Fotografen Michael Klinec, der auf der Übergangsbrücke zu den Gleisen einen Stand mit eigenen S-Bahn-Fotos ausstellt, faszinieren an der Berliner Stadtbahn vor allem die alten Bahnhöfe, „Mit wie viel Liebe, Kunst und Können“ die gestaltet seien! Dies falle heute weg bei aller Rationalisierung: „Keiner kann das mehr bezahlen, es schön zu machen.“ Er liebe die „Stimmung“ in der S-Bahn – die Begeisterung über die Technik überlasse er anderen. Das seien die Technikfreaks, die hätten einen „besonderen Charakter“, erklärt er noch. Was das heißt? „Da schweige ich“, sagt er. Und lächelt.

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