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■ „Der Wolf weinte und fraß das Lamm“
Vor dem Belorussischen Bahnhof im Moskauer Zentrum im warmen Nieselregen sind gestern morgen nicht die reichsten BürgerInnen anzutreffen. Die einen wollen zur Metro oder Eisenbahn, die anderen gehen ihren täglichen Geschäften nach. Blumensträuße wechseln den Besitzer. Aus dem Raubkassetten-Kiosk dröhnt eine Verdi-Arie. „Das soll wohl ein Witz sein, ist der Jelzin etwa schon wieder ausgerastet?“, ruft Jewgenij, ein Arbeiter von 40 Jahren auf unsere Frage, was er von alledem halte. „Das ist für die da oben so ein Spiel, alle drei Monate die Regierung zu wechseln!“, meint gleichgültig Irina, eine 32-jährige Krankenschwester.
Recht gut schneidet in den Augen der DurchschnittsmoskauerInnen offenbar Ex-Premier Stepaschin ab: „Der Wolf weinte und fraß das Lamm. Wie kann man nur einem Menschen gleichzeitig seinen Dank aussprechen und ihn entlassen?“, empört sich Mansur (37), nach eigenen Worten ein „Businessman“. Und Gennadi, 43, einst Kinoregisseur und heute arbeitslos, meint dazu: „Ich hatte gehofft, dass Stepaschin zum Präsidentenformat aufläuft – so ein junger, energischer Mann. Das schlimmste aber ist, dass alles im Verborgenen ausgemauschelt wird, dass dies alles so ein Clan insgeheim für sich entscheidet. Wen man wirklich auswechseln müsste, ist der Präsident“.
Auf allgemeine Skepsis stößt, dass Jelzin nun schon selbst einen Nachfolger für sich vorgeschlagen hat, nämlich den amtsausübenden Premier Vladimir Putin. „Was geht uns das an, wer der Nachfolger wird“, kommentieren schulterzuckend drei Penner auf dem Belorussischen Bahnhof. „Und wenn es sich auch um einen gehörnten Teufel handeln sollte – solange wir nur unser freies Leben weiter führen können, ist uns alles gleich“.
Timur, 44, Manager in einer Handelsfirma, meint dazu: „Das kennen wir doch schon, wenn unser Präsident sich offiziell einen Nachfolger ausruft, dann erdrosselt er ihn am nächsten Tag mit eigenen Händen“.
Lösungsvorschläge für die Situation sind reichlich wortradikal: „ Das beste wäre, wenn „sie“ ihren Wahnsinn soweit trieben, dass sie sich alle gegenseitig erschössen. Je eher, desto besser“, resümiert der Arbeiter Michail, 32. Die Törtchenverkäuferin Lena, 44, würde bei der Lösung der russischen Misere sogar selbst mit Hand anlegen: „Man muss einfach alle aus dem Weißen Haus herausräuchern, die Guten wie die Schlechten. Und sie dann alle zusammen in die Luft jagen“, erklärt sie. Nur einer der Befragten bedenkt, dass auch das Volk selbst eine gewisse Schuld treffen könnte. Er outet sich als „Alki vom Bezirk Krasnaja Presnja“ und röhrt empört: „Das ist einfach eine Ungeheuerlichkeit. Da treibt ein Mensch ganz allein, weiß der Teufel was! Und man kann sich nicht genug wundern, wie das Land zu alledem schweigt!“
Barbara Kerneck
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