■  Ist es Laune, ist es Taktik? Russlands sprunghafter, kranker Zar hat schon wieder seinen Premier ausgewechselt. Der Neue war bislang mächtige Graue Eminenz. Jelzin wünscht ihn sich auch als Nachfolger im Präsidentenamt
: Im Zirkus Jelzin geht es rund

Inzwischen hat es sich eingebürgert. Während die meisten Russen noch auf der Datscha weilen und Wintervorräte anlegen, werden im verwaisten Moskau die politischen Weichen umgestellt. Gestern entließ Präsident Boris Jelzin seinen Premierminister Sergej Stepaschin, der erst Ende Mai den Dienst angetreten hatte. Im Sommer letzten Jahres wurde sein Vorvorgänger Kirijenko entlassen und sein Vorgänger Primakow erst im dritten Anlauf auf Jelzins Druck von der Duma bestätigt. Als Nachfolger Stepaschins designierte Jelzin den 47-jährigen Wladimir Putin (siehe Porträt). Die Rolle des bisherigen Chefs des Sicherheitsrates und Leiters des FSB, der Nachfolgeorganisation des Geheimdienstes KGB, soll sich indes nicht auf die Führung der Regierungsgeschäfte beschränken. Jelzin beendete das jahrelange Rätselraten um seinen Wunschnachfolger als Präsident und nannte Putin, der bisher in der Öffentlichkeit ein eher niedriges Profil gezeigt hatte.

Warum der Präsident vier Monate vor den Wahlen zur Duma seinen getreuen Gefolgsmann in den politischen Ruhestand versetzte, bleibt der Spekulation anheimgegeben. Jelzin, der gestern in einer Fernsehansprache den 19. Dezember als Termin der Parlamentswahlen bekannt gab, schwieg sich darüber aus.

Dass Jelzins mit Stepaschin nicht glücklich war, sickerte aus der Präsidialverwaltung in den letzten Wochen mehrfach durch. Zum einen verfolgte der Kremlchef, wie schon bei Stepaschins Vorgänger Jewgeni Primakow, eifersüchtig Erfolg und Anerkennung, die den Premiers auf internationaler Bühne entgegen gebracht wurden. Stepaschin hatte, so jedenfalls stellten es die Moskauer Medien dar, bei seinem Besuch im Juli in Washington eine gute Figur gemacht. Nun duldet der machtbesessene Jelzin aber neben sich keine ebenbürtigen Gestalten, die gelegentlich auch mal eine eigene Meinung zum besten geben.

Außerdem war es dem scheidenden Premier nicht gelungen, sich an dem neu gegründeten Wahlbündnis des Moskauer Bürgermeisters Juri Luschkow zu beteiligen.

Ihn halten der Kreml und die sogenannte „Familie“, Jelzins Töchter und ihre Finanzverwalter, allen voran Oligarch und Dämon Boris Beresowski, für einen gefährlichen Widersacher.

Luschkow hat bisher gute Aussichten, aus den Präsidentschaftswahlen als Sieger hervorzugehen. Die Familie fürchtet indes, der neue Präsident könne Revanche nehmen und die Eigentumsverhältnisse der jungen Jelzins revidieren.

Schon die letzte Kabinettsbildung offenbarte, nach welchen Kriterien die „Familie“ die Schlüsselpositionen besetzen ließ. Hauptmotiv war es, Vertreter des großen Geldes einzubinden, die den Wahlkampf des Kremlaspiranten finanzieren könnten.

Inzwischen taucht sogar Jelzins Frau Naina, die bisher nie im Zusammenhang mit Kremlintrigen von sich reden gemacht hat, als eine Schlüsselfigur auf. Sie soll ihrem Mann geraten haben, Wladimir Putin zum Regierungschef und Thronfolger zu ernennen. Er sei entschlossener als Stepaschin. Was in den Überlegungen des Hauses Jelzin indes wohl eine ausschlaggebendere Rolle spielte: Der ehemalige FSB-Chef kann auf die Unterstützung der Sicherheitsapparate bauen. Um Putin überhaupt zum amtierenden Premierminister ernennen zu können, schuf Jelzin über Nacht noch den Posten eines dritten stellvertretenden Vizepremiers.

Im Einklang mit der russischen Verfassung muss sich das Parlament innerhalb einer Woche mit der Kandidatur des neuen Premiers befassen. Obwohl zur Zeit Parlamentsferien sind, wird die Duma voraussichtlich am Freitag zu einer Plenarsitzung zusammentreten. Lehnen die Gesetzgeber den Kandidaten des Präsidenten dreimal hintereinander ab, muss Jelzin das Parlament auflösen. Allerdings scheint die nationalistische und kommunistische Opposition im Moment keinen Drang zu verspüren, sich mit dem Kreml auf ein Kräftemessen einzulassen.

Die Konsequenzen wären nicht abzusehen. Würde der Kremlchef die Duma auflösen, verlören die Abgeordneten die Infrastruktur des Parlamentes, die für Wahklkampfzwecke lebensnotwendig ist. Daher wird die Kandidatur Putins, wenn nicht im ersten, so doch im zweiten Durchgang passieren. Die Personalpolitik des Kremls hat mit den nationalen Interessen des Landes nur noch wenig zu tun.

Es gehört schon ein gehöriges Maß an Realitätsferne oder Abgebrühtheit dazu, einen Premierminister zu entlassen, wenn sich an der Südostflanke im Kaukasus ein Konflikt abzeichnet, der sich zu einem neuen Krieg ausweiten könnte.

Am Wochenende waren an die zweitausend Rebellen der islamisch-fundamentalistischen Sekte der Wahhabiten von Tschetschenien aus in die Nachbarrepublik Dagestan eingedrungen.

Mehrere Dörfer in der Bergregion sind fest in der Hand der Aufständischen. Der russischen Armee, die 1996 in Tschetschenien eine schmachvolle Niederlage hinnehmen musste, ist es bisher nicht gelungen, die schwer zugänglichen Dörfer zurückzuerobern.

Klaus-Helge Donath, Moskau

Inzwischen taucht auch Jelzins Frau Naina, die bisher nie im Zusammenhang mit Kremlintrigen von sich reden gemacht hat, als Schlüsselfigur auf