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Das ganze Europa

Die kleinen Sprachen wollen mitreden. Das „Europäische Büro für weniger gebrauchte Sprachen“ ist ihre Lobby  ■   Von Martin Ebner

Gibt es in Europa Platz für Menschen, die Bretonisch, Baskisch oder Slowenisch sprechen? Im letzten Jahrhundert war für fortschrittliche Menschen wie Friedrich Engels die Antwort klar: übrig gebliebene „Völkerruinen“ und „verworrene Völkerabfälle“ sollten samt ihren Sprachen schnellstmöglich „vom Erdboden verschwinden“ – am besten in einem Weltkrieg beseitigt werden. Derartiges Gedankengut ist heute selbstverständlich überwunden. Bekennt sich die Europäische Union nicht zu kultureller Vielfalt?

„Die Befürwortung der Vielsprachigkeit seitens der Politiker ist paradox“, klagt Professor Florian Coulmas von der Uni Duisburg: „In der EU können die Nationalstaaten die vorherrschende Stellung ihrer Sprache nur erhalten, wenn sie sich zur Mehrsprachigkeit bekennen. Die Probe auf Multilingualismus und sprachliche Toleranz ist aber nicht, ob auch Deutsch von den Institutionen der EU verwendet wird, sondern wie es um das Bretonische in Frankreich, das Slawomakedonische in Griechenland oder das Sorbische in Deutschland bestellt ist.“

In der EU wird nämlich in sehr viel mehr als nur den zwölf Vertragssprachen gesprochen. Außer in Portugal gibt es in jedem EU-Staat Minderheitensprachen: am meisten in Italien (elf) und Frankreich (zehn), in Deutschland immerhin vier. 50 Millionen der 370 Millionen EU-Bürger beherrschen eine dieser ungefähr 50 autochthonen Regionalsprachen. Genauere Zahlen gibt es nicht – Politiker und Wissenschaftler können sich nicht einigen, was eine nationale Minderheit sein soll oder eine Sprache. Da die Angehörigen der Minderheiten zwangsläufig zweisprachig sind, werden sie so gut es geht ignoriert, ihre Sprachen oft ins Privatleben verdrängt.

Erst seit dem Zusammenbruch Osteuropas beschäftigen sich UNO, OSZE und andere Organisationen intensiver mit Minderheiten. Wie schwammig ihre Dokumente sind, beweist zum Beispiel die „Rahmenkonvention für den Schutz von nationalen Minderheiten“ des Europarats. In Artikel 11 heißt es nicht etwa „Ortsschilder für alle!“, sondern: „In Gebieten, die traditionell von einer substanziellen Anzahl von Personen einer nationalen Minderheit bewohnt werden, sollen die Staaten im Rahmen ihres Rechtssystems unter Berücksichtigung ihrer spezifischen Bedingungen die traditionellen Ortsnamen und andere geographische Bezeichnungen, die für die Öffentlichkeit gedacht sind, auch in Minderheitensprachen anbringen, wenn es einen ausreichenden Bedarf für solche Bezeichnungen gibt.“

Immerhin gibt es mit der am 1. März 1998 in Kraft getretenen „Charta für Regional- und Minderheitensprachen“ des Europarats erstmals einen internationalen Rechtstext, der Minderheitensprachen definiert und Fördermaßnahmen festsetzt. Für die osteuropäischen Beitrittskandidaten macht die EU diese Charta verbindlich – in der Europäischen Union selbst sieht es anders aus: Bisher haben sie nur Deutschland, Finnland und Holland ratifiziert; Österreich, Dänemark und Spanien haben immerhin schon unterschrieben. Frankreich und Griechenland, die krampfhaft die Existenz von Minderheitensprachen leugnen, haben erreicht, dass der EU ausdrücklich untersagt wird, im Bereich der Sprachpolitik irgendeine Harmonisierung zu versuchen oder das Prinzip der Einstimmigkeit aufzugeben.

Obwohl die EU-Institutionen folglich keine rechte Rechtsgrundlage dafür haben, setzen sie sich für die Minderheitensprachen ein, zumindest ein bisschen. Sei es, dass die Eurokraten Verbündete gegen die nationalen Regierungen suchten, sei es, dass sie vom Aufschwung regionalistisch-grüner Bewegungen beeindruckt waren – das Europäische Parlament verabschiedete jedenfalls 1981 eine erste Resolution zum Schutz der Minderheitensprachen; die EU-Kommission richtete bei der Generaldirektion DG XXII (Erziehung) ein entsprechendes Büro ein und schuf eine sogenannte Budgetlinie B3-1006.

Seit 1981 wurden darüber hinaus rund 32 Millionen Euro ausgegeben, zum Beispiel für „Euromosaic“, also zur Erforschung der Minderheitensprachen, für „Euroschool“-Treffen von Kindern der Sprachminderheiten oder für die drei „Merkator“-Zentren (im holländischen Leeuwarden für Erziehungsfragen, in Aberystwyth in Wales für Medien und im katalanischen Barcelona für Gesetzgebung).

Das wichtigste der europäischen Projekte ist jedoch das 1984 gegründete „Europäische Büro für weniger gebrauchte Sprachen“ (EBLUL) mit Sitz in Dublin und Brüssel. Es unterhält ein großes Dokumentationszentrum, damit über Minderheitensprachen nicht nur negative Informationen verbreitet werden, fördert die Erarbeitung von Wörterbüchern, Studienfahrten oder die Ausbildung von Lehrern – vor allem betreibt es aber intensives Lobbying für die kleinen Sprachen. Die Mitglieder des „European Bureau for Lesser Used Languages“ sind entsprechende nationale Institutionen, in Deutschland zum Beispiel das Serbski Institut in Cottbus, und insgesamt in allen EU-Staaten außer Portugal und Griechenland einige hundert ehrenamtlich tätige Sprachaktivisten.

„All die Aktivitäten, die heute Sprachgruppen auf europäischer Ebene entwickeln, wären vor 20 Jahren unvorstellbar gewesen“, sagt Bojan Brezigar, der Direktor einer slowenischen Zeitung in Italien und EBLUL-Präsident. „Minderheitensprachen waren in den meisten Ländern ein absolutes Tabu-Thema. Heute werden sie nur in Griechenland überhaupt nicht anerkannt.“

Trotzdem werde das EBLUL immer noch gebraucht: „Die meisten Sprachgemeinschaften sind sehr klein und weit entfernt von den europäischen Institutionen. EBLUL bietet ihnen korrekte Informationen. Dazu kommt die EU-Osterweiterung. Allein mit der ersten Runde von Estland bis Zypern bekommen wir 40 weitere Minderheitensprachen. Über die meisten haben wir noch keine Informationen. Wir wissen, dass es unmöglich sein wird, alle zu erhalten – aber ohne die Organisationen zum Schutz der Sprachen wären sie alle zum Tod verurteilt. Das wäre ein fürchterlicher Verlust für das kulturelle Erbe Europas!“

Ob die Großen die Kleinen allerdings wirklich vermissen würden, muss bezweifelt werden. Tilman Zülch, der Präsident der Gesellschaft für bedrohte Völker, beschwerte sich im Juli bei EU-Kommissionspräsident Romano Prodi: In der neuen Kommission wurde „erneut niemand mit der rechtlichen und kulturellen Betreuung der Sprachminderheiten beauftragt“. So blieben die Angehörigen der Sprachminderheiten weiterhin Bürger zweiter Klasse, die diskriminiert werden. „Wenn sich nichts ändert, wird innerhalb von einer oder zwei Generationen mehr als die Hälfte der europäischen Sprachen ausgestorben sein.“ Bisher hat Prodi nicht geantwortet, bedauert die Gesellschaft für bedrohte Völker. „Dabei haben wir auf Deutsch und Italienisch geschrieben.“ Wer nicht verstehen will, versteht auch zwei große Sprachen nicht.

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