: Der Sklavensohn
Der Reggaesänger Junior Delgado hat seit den frühen 80ern schon einige kreative Hochphasen hinter sich ■ Von Nils Michaelis
Im Film Trainspotting gibt es eine Szene, in der die zwei Hauptprotagonisten über Velvet Underground philosophieren. „Nur ihre frühe Phase“, sagt der eine, „war so richtig klasse.“ Der andere findet das zwar nicht verkehrt, möchte aber auch auf einige nicht unbedeutende Solowerke der Herren Cale und Reed hinweisen. Der Erste will dies seinerseits nicht bestreiten, stellt dann aber die entscheidende Frage: Was erkennt man, wenn man wirklich ganz tief und bis auf den Grund des Herzens in sich hinein horcht? Man muss dann zugeben, dass so richtig großartig, weltbewegend und in Biographien eingreifend eben doch nur ihr Frühwerk sei. Ein interessantes Problem wurde verhandelt: Können einmal erlangte kreative Hochphasen jemals wieder erreicht werden, oder sind bestenfalls nur Annäherungen möglich?
Auch im Reggae ist dieses Problem nicht unbekannt. Lee Perry muss genannt werden. In seinem Black-Ark-Studio der Phase 1974 - 1980 nahm er eine zeitlose und unglaublich schöne Musik auf. Bis heute beißen sich Interpretatoren daran die Zähne aus. Doch nach Perrys Nervenzusammenbruch von 1980, der ihn dazu brachte, das Studio in Asche zu legen, vermochten seine neuen Platten nie wieder den Gang der Welt umzulenken.
Bim Sherman ist ein weiterer Kandidat. Seine Platte Miracle kämpfte auf eine bis dahin beispiellose Weise gegen Verrostungstendenzen: Indische Orchesterstreicher, Tablas und seinen feinen ätherischen Gesang vermischte Sherman mit dem ohnehin unorthodoxen Reggae der britischen Adrian-Sherwood-Schule. Die Kritik sang Preislieder. Inzwischen jedoch melden sich Stimmen zu Wort, die Miracle für überschätzt halten und darauf verweisen, dass Shermans Streicher vielleicht doch nur im Dienste des Seichten standen.
Der Fall Junior Delgado: Junior Delgado ist möglicherweise eine Ausnahme. Möglicherweise wohlgemerkt, schließlich kann man das immer erst im Nachhinein beurteilen. Dass es dieses Nachhinein beim 1958 geborenen Delgado noch nicht gibt, ist der Tatsache zu verdanken, dass ihm bis jetzt das wirklich große, genrestiftende Meisterwerk noch nicht gelungen ist. Das erleichtert.
Delgado ist zunächst einmal ein begnadeter Sänger, der schon als kleiner Junge immer wieder Gesangswettbewerbe gewann. Mit Lee Perry nahm er den Hit „Sons of Slaves“ auf. eine Oral-History der Sklavenverschleppung: „Are we not the sons of slaves / Are we not the children of runaway from plantations / how long will it take you to give us just a little justice.“ Als „quintessential sufferers music“ bezeichnete Reggaechronist Steve Barrow diese Phase. Bei aller Größe von „Sons of Slaves“, seine weitere Karriere überschattete es nicht. Delgados großer Soulstimme blieb das unbelastete Interesse für neue Entwicklungen. Seit den frühen achtziger Jahren pendelte der Sänger zunehmend zwischen Jamaika und England, das in der Reggaemusik bekanntlich auf eigenen Wegen geht. 1986 nahm er mit August Pablo den Hit „Raggmuffin Year“ auf und befand sich unversehens an der Spitze der sogenannten „dancehall revolution“.
Auch Delgados jüngste Platte Fearless sucht die musikalische Entwicklung. Wie beim erwähnten Bim Sherman sind auch diesmal Musiker aus dem Umfeld Adrian Sherwoods beteiligt. Statt jedoch, wie bei Shermans Miracle, zu ganz neuen Ufern aufzubrechen, ist der Versuch Reggaekonventionen zu verfremden, offenbar. Delgado im Dienste des Fortschritts – und vielleicht greift er diesmal in Biographien ein.
Das Hamburg-Konzert von Junior Delgado wurde nach Redaktionsschluss abgesagt!
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