„Meine Figuren sind keine Verlierer“

■  In jeder Bewegung steckt der Versuch, mit einer anderen Materie in Kontakt zu kommen: Ein Gespräch mit der amerikanischen Choreographin Meg Stuart über Körpersprachen, Cyborgs und ihr neues Stück „appetite“

1994 gründete die amerikanische Choreographin Meg Stuart in Brüssel ihre Gruppe Damaged Goods, die bald darauf für ihre zerstückelten Körperbilder bekannt wurde. In ihrem jüngsten Stück „appetite“, mit dem die Tanzwerkstatt den „Tanz im August“ eröffnet, lösen sich die bedrohlichen Ansätze oft in spielerischen Situationen auf.

taz: Von Anfang an spielt in Ihren Choreographien der entstellte oder beschädigte Körper eine Rolle. Ist die ästhetische Deformation ein Code für den sozialen Ausschluss?

Meg Stuart: Wow, was für ein Start! Ich habe mich immer für das Scheitern, für körperliche Schwierigkeiten und physische Behinderungen interessiert. Damit will ich fragen, was der Körper erreichen kann, wie emotionale und physische Hindernisse überwunden werden können. Meine Figuren sind keine Verlierer; im Gegenteil, sie haben einen starken Willen. Die Hindernisse, mit denen sie klar kommen müssen, sind ein wenig Metapher für die Kraft des Wünschens.

„appetite“ hat viel mit Hunger zu tun und dem Wunsch, sich den anderen einzuverleiben. Wir sehen, wie einer in den anderen beißt und immer wieder Luftströme ausgetauscht werden. Essen und Atmen: Da geht es um mehr als biologische Funktionen?

(lacht) Atmen, das ist die Verbindung zwischen dem Innen und Außen. Der Atem wird enorm beeinflusst von Emotionen. Nichts ist so schrecklich wie keine Luft mehr zu bekommen. Das weiß ich, seit ich als Kind unter Asthma litt. In einem Solo gehen wir die ganze Geschichte des Atems durch, vom Lebenslicht ausblasen bis zur Wiederbeatmung. Das Essen ist eine andere Sache. Da geht es auch um Vergnügen. Aber das Schwierige ist, zu wissen, wann der Hunger befriedigt ist. Essen ist eine soziale Angelegenheit, damit wird die Zeit eingeteilt, und es ist die Quelle sozialer Interaktion. „appetite“ beschäftigt sich sehr mit den Prozessen in der Gruppe.

Für „appetite“ haben Sie zusammen mit der bildenden Künstlerin Ann Hamilton gearbeitet. Was war die Basis?

Ann Hamilton hat eine Haut aus Ton entworfen, die sich über die ganze Bühne zieht. Sie zerbricht und trocknet während der Vorstellung und hält die Spuren der Tänzer fest. Diese Haut ist wie ein Gedächtnis. Auf dieses Thema haben wir uns beide konzentriert: Haut, Berührung und den Wunsch, aufgesogen zu werden oder einzutauchen in die Haut eines anderen. Ann arbeitet auch mit dem Beschädigten, dem, was nicht passt, mit Ersatz. Der große Schritt dabei ist, die Dinge nicht als irreparabel darzustellen. Wir versuchen beide, die Dinge in einer Weise zusammenzufügen, dass Hoffnung wieder möglich ist.

Geräusche und Bilder von „appetite“ erinnern zum Teil an die postkatastrophalen Settings von Science-Fiction-Filmen, in denen Menschen gegen Maschinen kämpfen. Was halten Sie von der Idee, dass intelligente Agenten und Identitäten im Cyberspace die Rolle des Körpers übernehmen?

Das ist das Thema meiner nächsten Arbeit: die Vorstellung, Kontrolle über die Zeit unseres Lebens zu gewinnen, die Möglichkeiten, Organe außerhalb des Körpers wachsen zu lassen. Das wird nicht nur den Körper betreffen, sondern auch die Beziehung zu allem anderen.

Mögen Sie Lara Croft oder ähnliche Figuren?

Tatsächlich habe ich alle diese Vorstellungen – zu fliegen, zu verschwinden, ein Superheld zu sein – schon in Comicbüchern gemocht. Eigentlich ist das nichts anderes als der Wunsch, die Zeit anzuhalten. Diese Wünsche bilden die Basis meiner Bewegungssprache. Als ob man sich die ganze Zeit in einer Parallelwelt bewegen würde.

Parallelwelt?

Ja. Man zeigt die Aktion, dann mit der nächsten Bewegung die Gefühle in dieser Aktion, dann die Erinnerung daran. Das sind verschiedene Schichten, verschiedene Arten der Wahrnehmung einer Aktion. So steckt in jeder Bewegung auch etwas von einer Verständigung mit anderen physischen Welten.

Oft beschreiben Sie panische Situationen, Notfälle. Wir hören Sirenen, jemand bekommt keine Luft mehr. Woher kommt diese konstante Bedrohung?

Schon als Kind habe ich mir vorgestellt, wie es ist, zu sterben. Oder ich versetze mich in Situationen wie: Was passiert, wenn das Haus abbrennt? Das sind vielleicht perverse Phantasien, aber das Wichtige dabei ist, den Punkt der Transformation zu finden, wenn normale Situationen plötzlich kippen. „appetite“ ist wie ein Dominospiel angelegt, da lösen die beängstigenden Situationen auch immer wieder freundliche Bilder aus.

Sie sind in New Orleans geboren, haben in New York studiert und arbeiten seit 1994 mit ihrer Company Damaged Goods in Brüssel und Wien. Sind Sie überall zuhause?

Ich bin nirgendwo zuhause. Schon mit meinen Eltern, die am Theater arbeiteten, bin ich oft umgezogen, und immer gab es eine Bühne oder ein Stück, das eine eigene Realität darstellte. Solange solch ein Projekt läuft, fühle ich mich wohl, aber ohne das bin ich verloren. Die Folgen dieser Situation habe ich sicher in meinen Körper übersetzt, und diese Erfahrung der Instabilität ist eine Basis für alles. Man muss sich immer wieder rekonstruieren und neu formen.

Interview: Katrin Bettina Müller

Meg Stuart: „appetite“ im Theater am Halleschen Ufer, 12. August, 21 Uhr, am 13. und 14. August um 20 Uhr.