■ Gestern, 12.34 Uhr, auf dem Schlossplatz, Stuttgart: Sonnenfinsternis versäumt. Hoffnung bis zur letzten Minute, doch statt schwarzer Sonne mit Korona nur Gewitter: Ich brauchte keine Brille
Kurz vor Frankfurt hatte Mutter Natur einen prächtigen Regenbogen in die Landschaft gesetzt. Mein Sitznachbar im ICE Berlin-Stuttgart (“Fahren Sie auch zur Sonnenfinsternis?“) sprang auf, zerrte seine Reisetasche aus der Gepäckablage und kramte hektisch nach seiner Kamera. „Sagenhaft“, murmelte er und drückte genau in dem Moment auf den Auslöser, als eine kilometerlange Baumreihe uns den Blick auf das Schauspiel versperrte.
Ein Omen? Am späten Mittwochmorgen ist es wolkig in Stuttgart, doch hin und wieder blitzt die Sonne auf. „Ich brauche eine Brille!“, jammert eine junge Frau an der Straßenbahnhaltestelle. Ihre zwei Freundinnen schütteln resigniert die Köpfe. „Nichts zu machen. Es gibt keine mehr.“ – „Vielleicht bekommen wir doch noch eine.“ Bekommen sie nicht: Bei jedem Stuttgarter Optiker hängt ein großes Schild im Fenster: „Sonnenfinsternisbrillen ausverkauft“. Ein Hinweis, den nicht jeder Finsternistourist versteht – auf der Einkaufsstraße scheucht ein Optiker eine Gruppe amerikanischer Rucksackträger aus seinem Laden, versperrt die Tür von innen und löscht das Licht.
Es herrscht eine seltsame Unruhe in der Stadt. Man läuft ein wenig schneller als sonst, niemand flaniert. Immer wieder bleiben Passanten unvermittelt stehen, starren in den Himmel und werfen danach einen prüfenden Blick auf ihre Armbanduhren. Um halb zwölf fange ich auch damit an: Nach oben gucken, auf die Uhr gucken. Erste Zweifel: Vielleicht passiert es ja gar nicht? Außerdem wird die Wolkendecke dichter. Was soll dann schon groß zu sehen sein?
Die meisten Menschen – eine viertel Million soll heute unterwegs sein – streben in die Innenstadt zum bierbudenumstellten Schlossplatz, wo die Sonnenfinsternis auf zwei Videogroßleinwänden übertragen werden soll. Die Luft ist feucht, das Gedränge groß. Um zwölf Uhr zeigen manche erste Anzeichen von Panik. „Wir setzen den Kindern jetzt die Brillen auf“, kreischt eine Frau auf ihren Mann ein, „nachher sind die Wolken plötzlich weg, und dann ist es zu spät!“ Ihr Gatte greift widerwillig in die Innentasche seines Jacketts und drückt seinem Nachwuchs die Pappgestelle auf die Nase. „Nicht runternehmen“, schärft er ihnen ein. Die Kinder nicken stumm.
Inzwischen ist der Himmel grau verhangen. Wo war noch gleich die Sonne? Eher rechts vom Schloss? Oder ist sie schon weitergezogen? „Das kann noch klappen“, versichert ein Jugendlicher seiner Freundin. Sie zieht die Augenbrauen hoch. „Und wie willst du das machen?“ Es beginnt zu regnen, ich stelle mich an den Rand des Platzes unter eine Betonmauer. Uhrenvergleich: Noch zwei Minuten. Noch eine Minute – plötzlich rennen hunderte von Leuten, die nicht in der Masse eingekeilt sind, wie verrückt um die Ecken, einmal noch den Standort wechseln. Gleichzeitig ertönt rhythmisches Klatschen, als gelte es, eine Band auf die Bühne zu bringen.
Das Licht wird gelblich. Es dämmert. Das Publikum beginnt ein Pfeifkonzert. Und dann wird es wirklich finster. Brillenlos betrachte ich die beeindruckende Dunkelheit: Dieses Bild habe ich nicht erwartet. „Oh“, sagt ein Mann neben mir, „wie schön!“
Auf dem Schlossplatz jedoch beginnt ein Blitzlichtgewitter, und wieder ist Applaus zu hören. Er verstärkt sich, als das Sonnenlicht wieder durchkommt. Noch mehr Pfiffe, frenetischer Jubel wie bei einem Fußballspiel: So stelle ich mir die zu erwartenden Millenniumsverrücktheiten vor.
Carola Rönneberg
Im Saarland hat die SPD die Sonnenfinsternis in ihren Wahlkampf für die Landtagswahl eingespannt. Auf rabenschwarzen Plakaten und Zeitungsanzeigen verkündeten die Genossen gestern: „Heute wird das Saarland schwarz: Zum Glück nur für zwei Minuten. Damit unser Land weiter Sonne hat. Am 5. September: SPD.“
Friedrich Merz – CDU-Bundestagsmitglied – fühlte sich angesichts der Sonnenfinsternis an Rot-Grün erinnert. „Das Ereignis hatte viel mit der Politik der Bundesregierung gemeinsam: Großen Ankündigungen folgen kleine Ergebnisse“, meinte er vielleicht auch bezüglich der Trübung des Naturschauspiels durch Regenwolken.
Paris hat überlebt. Couturier Paco Rabanne auch. Er hatte prophezeit, Trümmer der abstürzenden Raumstation Mirträfen die französische Hauptstadt. Für sich selbst war er optimistisch geblieben. An seiner ferienhalber geschlossenen Boutique war die Wiedereröffnung für 24. August angekündigt.
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