piwik no script img

Hertha gewinnt, Klemann siegt

■  Nach dem glücklichen Ende der Klappsitzposse siegte Hertha zwar 2:0 gegen Famagusta. Doch die Zuschauer blieben aus. Nicht auszudenken, der Bausenator hätte vorher zurücktreten müssen

Nach den ersten 90 Sekunden durfte man noch hoffen. Soeben hatte Herthas Neuzugang Ali Daei das 1:0 im Qualifikationsspiel für die Champions League gegen Anorthosis Famagusta geköpft und alles schien seinen Weg zu gehen: Hertha auf dem Weg an die europäische Spitze und ein Berliner Bausenator, der der alten Dame diesen Weg geebnet hat.

Aber dann kam alles anders. Doch der Reihe nach: Zum Beispiel Reihe 19 im Block L. Wer geglaubt hat, das Olympiastadion mit seinem maroden Charme aus bröckelndem Beton und abgeschabten Sitzbänken am Mittwoch Abend nicht wiederzuerkennen, sah sich getäuscht. Die taubengrauen Klappsessel waren montiert – und gefielen! „Bequemer“, sagte ein Hertha-Fan. Wenn er aufsprang, hatte er noch genügend Beinfreiheit, sich selbst und seine Hertha-Fahne zu schwenken. Der Klappsessel machte es möglich – und Jürgen Klemann, der Bausenator.

Was Klemann allerdings nicht ahnen konnte, war Volkes Stimmung. Noch bis kurz vor dem Spiel war diese angeblich vor dem Siedepunkt. 36.000 Einzelsitze waren laut Uefa-Diktat zu montieren, und lange, lange sah es sogar aus, als würde Klemann über die Klappsitzposse stolpern.

Und dann das! Lücken, wohin das Auge blickte. Das Volk war ausgeblieben. Gerade einmal 42.000 Zuschauer hatten den Weg auf die 61.000 zugelassenen Plätze gefunden. Kaum auszudenken, es hätte nicht mit dem Einbau der Schalensitze geklappt. Klemann wäre von der Hauptstadtpresse – im Namen des Volkes – zum Rücktritt gedrängt worden, nur um dann zu merken, dass das Volk ganz anderes im Sinn hatte, als zum Kick gegen Famagusta zu pilgern.

Aber so sind sie, die Berliner, so unberechenbar wie jene Fans, die Minuten vor dem Abpfiff, als die Zyprioten der Hertha-Abwehr so richtig auf der Nase herumtanzten, aus voller Kehle sangen: „So ein Tag, so wunderschön wie heute.“

Aber was soll's. Hertha führte durch die Tore von Ali Daei und Michael Preetz bereits 2:0, und Gabor Kiraly machte wieder Späßchen.

Das ist eben der Unterschied zwischen Hertha und der deutschen Nationalmannschaft: Hertha gewinnt solche Spiele.

Der wahre Sieger des Mittwoch Abends heißt aber Jürgen Klemann: Wie der Bausenator seine Gegner, die Klappstuhllieferanten, kommen ließ, ihnen dann („Ich fühle mich verarscht“) die kalte Schulter zeigte, über die Flügel nach vorne dribbelte, um am Ende mit Siegesgewissheit zum Tor zu stürmen, war nicht nur europäische, sondern Weltklasse. Weiter so, Jürgen! Röbers Jungs brauchen schließlich Vorbilder. wera

Eine Koalition, die was bewegt: taz.de und ihre Leser:innen

Unsere Community ermöglicht den freien Zugang für alle. Dies unterscheidet uns von anderen Nachrichtenseiten. Wir begreifen Journalismus nicht nur als Produkt, sondern auch als öffentliches Gut. Unsere Artikel sollen möglichst vielen Menschen zugutekommen. Mit unserer Berichterstattung versuchen wir das zu tun, was wir können: guten, engagierten Journalismus. Alle Schwerpunkte, Berichte und Hintergründe stellen wir dabei frei zur Verfügung, ohne Paywall. Gerade jetzt müssen Einordnungen und Informationen allen zugänglich sein. Was uns noch unterscheidet: Unsere Leser:innen. Sie müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Es wäre ein schönes Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen