: Sie tanzen aus dem Bauch heraus
Wenn der russische Choreograf Jewgeni Panfilow sein Ballett der Dicken Vivaldi geben lässt, hebt das Publikum ab ■ Aus Perm Barbara Kerneck (Text) und Wladimir Suworow (Fotos)
Der zentrale Platz der Stadt Perm am Westhang des Ural gleicht einer Wüste. Der Rasen ist gelblich vertrocknet, der monumentale Springbrunnen führt kein Wasser, in der Mitte ragt ein scheußliches Heldendenkmal empor. Die metallurgischen und Maschinenbaufabriken der Stadt stehen still, die öffentlichen Mittel belaufen sich auf null.
An der Stirnseite steht das „Große Akademische Theater“, dessen weiße Säulen die hier fehlende öffentliche Toilette ersetzen. Dafür ist im Inneren des Gebäudes der Bär los. Der Zuschauersaal des ansonsten stets halbleeren Theaters ist heute überfüllt, wie jede Woche einmal, wenn dort „Jewgeni Panfilows Privatballett“ auftritt. Gerade schlägt eine russische Volksweise in wilden Rock mit Motorradgebrumm um. Halbnackte, massige Tänzerinnen in Rockerkluft überfallen auf der Bühne ein unschuldig schlafendes Dorf und schleppen die zappelnden männlichen Mitglieder von Panfilows Modern-Dance-Truppe in hypothetische Büsche. Das durchweg billig und provinziell gekleidete Publikum tobt vor Begeisterung.
Plötzlich scheint es, als habe der Saal abgehoben und sei auf einem anderen Planeten gelandet. Der Tanz nach der russischen Volksweise „Tscherjomucha“ ist eine von zwei Nummern, in denen Balettmeister Jewgeni Panfilow (44) sein vorwiegend weibliches „Ballett der Dicken“ mit mageren Tänzern aus seiner professionellen Truppe auftreten lässt.
Ursprünglich war das vor fünf Jahren gegründete Dickenballett eine Laiengruppe. Den „harten Kern“ von etwa acht Frauen, die dreimal in der Woche je vier Stunden trainieren, hält der Meister aber inzwischen für richtige Ballerinen: „Ich würde sie fest anstellen, wenn ich das Geld dazu hätte.“ Panfilow (44) gilt als Vorreiter des „Modern Dance“ in Russland. Als ihm 1994 die Idee kam, die Energie und die eigenartige Bewegungsdynamik dicker Menschen für das Ballett zu nutzen, war er schon einer internationale Berühmtheit und hatte mit seiner normalgewichtigen Truppe erste Preise eingeheimst, zum Beispiel beim internationalen choreografischen Wettbewerb „Prix Volenine“ in Paris 1993. Dann suchte er in einer Zeitungsanzeige Tanzlustige nicht unter 90 Kilogramm.
„Als ich zum ersten Male bei Jewgeni Panfilow vorsprach, fand er mich viel zu dürr“, berichtete Oksana (29, 80 kg). Heute ist sie mit ihrem Milch-und-Blut-Teint und mit ihrem seidigen Pagenkopf einer der Stars der Truppe: „Nur die Hinweise seiner Mitarbeiter auf mein außergewöhnlich attraktives Dekolletee konnten ihn dazu bewegen, mich aufzunehmen.“ Hauteng gekleidet, kann Oksana heute in Perm nicht unbelästigt die Straße überqueren. Wie die meisten Frauen und die beiden Männer der Dickentruppe meint sie, dass die Ballettarbeit sie von vielen alten Komplexen befreit habe.
Eine Therapie sei allerdings das letzte gewesen, was er mit seinem Projekt beabsichtigte, beteuert der Ballettmeister: „Das Leben ist formenreich. ich selbst bin ein sehr freier Mensch, und alle seine Formen sind für mich schön.“ Sicher hätte die ungewöhnliche Dickentruppe es ohne den Schutz von Panfilows populärem Namen schwerer gehabt. Viele ihrer Mitbürger beschimpfen sie als Abstrusität. „Kürzlich fuhr ich im Taxi zur Vorstellung, und der Fahrer empörte sich: ,Warum macht Panfilow nicht gleich ein Ballett mit Liliputanern?'“, erzählt die Jüngste der Truppe, die 22-jährige Katja.“ Als ich sagte, dass ich selbst mittanze, wurde er sehr verlegen. Da habe ich ihn eingeladen: „Sehen Sie sich das mal an, unser Dickenballett fördert nicht nur die Entwicklung seiner Mitglieder, sondern auch die des Publikums!“
Katja hat sich inzwischen sogar so weit entwickelt, dass sie die Prüfung für eine Ausbildung als Choreografin ablegte. Dass sie unter ihren Mitbewerbern nicht nur die dickste, sondern auch die älteste war, störte sie nicht.
Die lachlustige 44-jährige Dickenballettratte Swetlana kämpfte kürzlich an einer anderen Front gegen Vorurteile. „Zu Neujahr bin ich in eine Bar gegangen, in der Neue Russen verkehren und habe gesagt: Ich bring euch heute abend ein paar richtig dicke Mädels. Der Geschäftsführer druckste herum: ,Wir versuchen, unserem Publikum hübsche, schlanke Frauen zu bieten!' – Na, denen haben wir richtig eingeheizt! Am Ende tanzten die Neuen Russen nur noch mit uns!“
Swetlana hat eine Erklärung dafür, warum die Neuen Russen sich meist mit klapperdürren Gespielinnen umgeben: „Aus reinem Geiz. Um eine üppige Frau standesgemäß zu kleiden, braucht man viele Meter knitterfreien Stoffes. Und was unsereiner erst so isst, wenn der Tag lang ist.“
Gewiss verzehren die Mitglieder dieses Ballets mehr als die Permer Durchschnittsbürger. Ballettratte Natalja (38) ist Unternehmerin und besitzt eine Lebensmittelgroßhandlung. „Bei uns gehen vor allem Sprotten und billiger Schinken, dazu Instantgerichte mit chinesischen Glasnudeln. Wir nehmen im Monat höchstens 20 Dosen Lachsforelle auf Lager, so eine kaufen sich die Leute heute höchstens zum Geburtstag.“
Offenbar ist ihr Weg zum eigenen Betrieb steinig gewesen. „Man sagt, die Dicken seien gutmütig, aber ich bin nicht gut“, schließt Natalja. Eine edle Tat hat sie vollbracht: Der 31-jährigen Katja, die ihre Heimat in einer kleinen Ural-Stadt verließ, nur um sich dem Dickenballett anzuschließen, verschaffte sie einen Job als Verwalterin einer ihrer Lagerhallen. „Die Dicken sind eine Bereicherung für meine Magerentruppe“, ist sich Panfilow sicher: „Beide unterstützen einander mit Beifall und Kritik bei ihren Auftritten und bewahren sich so vor Isolation. Das neue Jahr, Beginn und Ende jeder Saison feiern alle jeweils mit einem Bankett. Und was Show- oder humoristische Elemente betrifft, so fallen sie den Dicken viel leichter.“
Vertraulich gibt ein Mitglied der Dickengruppe noch ein Detail preis, das die beiden Truppen unterscheidet: „Seine Mageren brüllt Panfilow schon mal an. Bei uns würde er sich so etwas nie herausnehmen.“ „Wenn beide Truppen auf Tournee gehen“, berichtet Oksana, von Beruf Kochlehrerin: „dann bringen es die Mädels vom Magerenballett manchmal fertig, auf einer Eisenbahnfahrt von vierundzwanzig Stunden nur mit Joghurt und einer Flasche Mineralwasser anzutreten. Wir dagegen sichern uns mit ganzen Säcken voller Proviant ab. Und dreimal dürfen Sie raten, in wessen Abteilen dann die Jüngelchen von den Mageren die Reise verbringen“?
Oksana hat in diesem heißen Sommer etwas abgenommen und weiß, was dies ihr für den Beginn der Herbstsaison einbringt: missbilligende Blicke des Meisters. „Marsch, Makkaroni kochen!“ rufe er dann, lacht sie. Oksana wird ihm gehorchen. Denn, so erklärt sie: „Ohne unser Ballett hätte ich die Ödnis hier nicht ausgehalten. Und wenn Panfilow auch sagt, er sei am glücklichsten, wenn seine Dicken so tanzen, dass man ihr Dicksein vergisst, sage ich: ,Erst einmal müssen wir ja dick sein, damit man es vergessen kann.'“
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