Verwirrung um herrenlose Schokolade

■  Der Vorwurf des Diebstahls von drei Tafeln Schokolade während eines Erwerbslosenprotesttages im vergangenen Jahr endete gestern vor dem Amtsgericht mit einer Einstellung. Polizeizeugen kannten die meisten Vorwürfe nur vom Hörensagen

Wegen drei Tafeln Schokolade – quadratisch, praktisch, gut – hat die Staatsanwaltschaft 16 Monate ermittelt. Gestern nun musste sich die vermeintliche Täterin, die 19jährige Nadin H., wegen Diebstahl und Widerstand gegen die Staatsgewalt vor Gericht verantworten.

Am 7. April vergangenen Jahres, anlässlich des dritten bundesweiten Erwerbslosenprotesttages, hatte das „Aktionsbündnis Erwebslosenproteste“ fingierte Einkaufsgutscheine für Karstadt am Hermannplatz verteilt. Auf diesen Gutscheinen rief Karstadt zum kostenlosen Konsum in seiner Lebensmittelabteilung auf. Etwa 50 Mitglieder des Protestzuges folgten dem Aufruf und schlenderten durch das Kaufhaus. Nachdem einige Polizisten in Zivil den Beamten, die den Demozug begleiteten, von „Plünderungen durch Personen aus der linken Szene“ berichteten, forderten diese Verstärkung an. Dann sperrten sie den hinteren Kassenbereich der Lebensmittelabteilung ab und griffen sich einzelne KundInnen heraus, unter ihnen die Angeklagte. Sie soll die Polizeikette durchbrochen haben.

Auf die Frage der Richterin Heidi Tannhäuser, woran die Polizisten die Zugehörigkeit zur linken Szene erkannt hätten, sagte ein Beamter, der als Zeuge vernommen wurde: „An der Kleidung, bunten Haaren und Piercing im Gesicht.“ Das Publikum, das der Zeuge wohl ebenso als „linkes Spektrum“ beschreiben würde – farbenfrohe Kleidung, Dreadlocks, „Against animal testing“-T-Shirt – nahm die Beschreibung mit Erheiterung zur Kenntnis.

Weil Nadin H. die Polizisten bei ihrer Festnahme „heftig getreten und geschlagen“ habe, so der Beamte weiter, habe er zurückgeschlagen und sie „zu Boden gebracht“. Nadin H. wurden mehrere Piercings aus einer Augenbraue und der Nase herausgerissen. Auf Nachfragen der Richterin stellte sich heraus, dass die Angaben des Beamten nicht mit dessen Zeugenaussage kurz nach dem Vorfall übereinstimmten. Darin ist von Tritten oder Schlägen der Angeklagten nicht die Rede. „Die haben alle auf uns eingeschlagen“, redete sich der Beamte heraus. „Es fällt auf, dass nicht zu unterscheiden ist, was Sie selbst und was andere gesehen haben“, so die Richterin.

Auch das vermeintliche Diebesgut stellte sich als etwas heraus, das sowohl dieser als auch die weiteren drei Polizeizeugen nur vom „Hörensagen“ von Kollegen kannten. Der einzige Beamte, der die Rittersport-Tafeln zu Gesicht bekommen haben will, fehlte gestern entschuldigt. Die Richterin verzichtete auf dessen Ladung und stellte das Verfahren ein.

„Super!“, schallte es sofort aus dem Publikum. „Selbst bei einem Nachweis wäre das Verschulden gering“, so die Begründung der Richterin. Nadin H., die während des Verfahrens geschwiegen und sich mit einem Stift aus ihrer Federmappe mit der Aufschrift „Take ist easy“ Notizen gemacht hatte, kommentierte das Prozessende mit den Worten: „Ziemlich geil, die Einstellung.“

Die Landeskasse trägt die Kosten des Verfahrens. Die arbeitslose Nadin H., die von einer Halbwaisenrente lebt, muss aber für die Rechtsanwaltskosten aufkommen. Weil sich das „Aktionsbündnis Erwerbslosenproteste“ nicht umsonst Solidarität auf seine Fahnen schreibt, will es diese Kosten übernehmen. Doch derzeit ist unklar, wovon. Ursprünglich war geplant, dazu einen Teil der 6.000 Mark zu verwenden, die das Bündnis als Umzugspauschale für den Auszug aus dem Haus der Demokratie bekommt, wo es lange seinen Sitz hatte. Weil die Gruppe seit geraumer Zeit durch Querelen gespalten ist, ist unklar, ob die Umzugspauschale gezahlt wird. B. Bollwahn de Paez Casanova