piwik no script img

Halsbrecherische Globalisierung

■ Leise Weisen, Disco-Klassiker und 300 Beats per minute: die rumänische Blaskapelle Fanfare Ciocárlia beim Internationalen Sommertheater-Festival auf Kampnagel

Wenn wirtschaftliche Globalisierung einen Effekt auf die Unterhaltungsindustrie hat, dann ist es die gesteigerte Popularisierung und weltmarktorientierte Verwertung regionaler Musikstile. 80-jährige Kubaner führen wochenlang die deutschen CD-Charts an, die Welt entdeckt ihr Interesse für finnischen Tango, und irische Squaredancer schuhplattlern im ZDF. Einst exotische Termini wie Rai, Son oder Fado sind im Sprachgebrauch des internationalen Pop keine Fremdworte mehr.

Doch das Verlangen nach einer wie auch immer gearteten musikalischen Ursprünglichkeit erweckt fast immer den neokolonialen Entdeckergeist. Der findet aber, im Gegensatz zum Pop-Imperialismus vergangener Tage, kaum mehr missionierungswürdige Flecken: MTV ist mittlerweile auch global omnipräsent. Stattdessen verdingt er sich als Konservator von vermeintlich noch unverfälschter Tradition, die er – mittels eines diffusen Authentizitätsbegriffs – der Wohlstandswelt als Soundtrack des irgendwie „wahrhafteren“ Lebens anzudienen sucht. Schwärmende Stadtmagazinschreiber feiern dann Armut oder Analphabetentum als fröhliche Urstände musikalischer Leidenschaft.

Kein Wunder, dass selbst die halsbrecherische Blasmusik der Fanfare Ciocárlia so Einzug in die Magazin-Feuilletons gehalten hat. Wie es in Rumänien, dem Armenhaus Europas, aussieht, weiß jeder. Und dass die aus dem bäuerlichen Umfeld eines nahe der ukrainischen Grenze gelegenen Dorfes stammenden Musiker keine Noten lesen können (wie viele westliche Popmusiker können das?), darf niemals unerwähnt bleiben. Selbst der Stern lugte letztes Jahr durch sein sonst hermetisch verschlossenes Pop-Visier und erkannte gleich den wahren Grund für den weltweiten Erfolg des furiosen Brass-Nonetts. Waren es doch „zwei Deutsche“, die die „Rabauken mit Trompeten“ und „schnellsten Zigeuner der Welt“ in einem kleinen Dorf „entdeckten“.

Diese wehren sich ihrerseits vor Vereinnahmung, so gut sie können. Auf ihren Konzerten lullen sie die Authentizitätsbettler zunächst mit leisen Weisen ein, um ihnen dann 300 blechernde Bläser-Bpm um die Ohren zu hauen. Reicht das nicht, covern sie Disco-Klassiker. Das klappt immer. Die neun 23- bis 60-jährigen Männer könnten vielleicht Noten lesen, gäbe es ein Notationsschema, das soviel Gleichzeitigkeit – im historischen wie spielerischen Sinne – erfassen könnte. Denn Fanfare Ciocárlia brauen nicht nur ein heißes Amalgam orientalischer und südosteuropäischer Musiktraditionen. Im Grunde sind sie das handwerkliche Pendant zu einem Industrieprodukt wie Techno. Aber falls sich nicht gerade jemand in Rumänien auf den Weg macht, um WestBam in einer Dortmunder Zeltdisco zu entdecken, soll das hier niemanden interessieren. Bis dahin heißt es: blasen, blasen, blasen!

Michael Hess

Fr,20. August, 22.30 Uhr, und Sa, 21. August, 22 Uhr, Kampnagel-Vorhalle 6,

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen