: Der Himmel kann warten
Männer basteln Marienepitaphe, und Nonnen treiben Ikebana: Gott ist allgegenwärtig in den Beskiden, und Auschwitz ist gleich um die Ecke. Eine polnische Reise ■ Von Petra Welzel
Draußen schwimmen in Zuggeschwindigkeit etliche Seen vorbei, Ableger einer Oder, der das Wasser schon wieder bis zum Halse steht. Im Abteil auf der Strecke Berlin–Krakau spiele ich mit dem zehnjährigen Hamster einer wasserstoffblondierten 52-jährigen Polin „Ich sehe was, was du nicht siehst, und das ist ...“.
Vor zwei Stunden haben wir Berlin verlassen, sind längst in Polen, und als gebe es hier nichts zu essen, hat sich der Hamster die von der Anstrengung erröteten Backen mittlerweile mit einer Rolle Chips, einer Packung Kekse und einigen Schokoriegeln gestopft. Die Mama spricht von Diät. Sie seien auf dem Weg zum 30-jährigen Sohn in Krakau, einem Zahnarzt, und bei dem müsse er abnehmen. Der Hamster grinst, sofern das seine prallen Wangen erlauben.
In Rzepin steigen zwei andere Polinnen hinzu. Die eine ist sehr jung, trägt Jeans und Rippshirt, auf dem Rücken einen Rucksack und in der Hand eine Tüte Chips. Die andere hat Migräne, was die Mutter sofort bemerkt. Durch ein Gespräch versucht sie die sich als Handlungsreisende Bezeichnende von ihrem Kopfschmerz abzulenken. Ich verstehe zwar nichts, aber die Mutter hilft auch mir und übersetzt unaufgefordert, wenn sie nicht ihren Hamster füttert. Die Sonne knallt zum Fenster herein, und es ist sommerlich warm im Abteil. Draußen ist es herbstlich kalt.
Ich bin auf dem Weg nach Auschwitz und Krakau über Bielsko-Biala. Das ist dort, wo die Polen ihre Fiat für sechs Personen und zentnerschweres Gepäck fabrizieren und eine Filiale der Deutschen Bank den Bau des Konzentrationslagers in Auschwitz mit finanzierte. Auschwitz liegt um die Ecke, auch Wadowice, der Geburtsort des Papstes. Krakau ist nicht weit, und die schlesischen Beskiden wachsen gleich vor den Türen der Plattensiedlungen am Rande der Kleinstadt in den Himmel. Bielitz hieß die Stadt früher einmal. Das klingt wie Beelitz, aber Spargelfelder gibt es hier nicht. In Bielsko-Biala montiert man italienische Pkws, geht wandern und im Winter auch Ski laufen.
In Breslau steigt die junge Polin wieder aus, besucht die Eltern. Im vorletzten Jahr habe die Jahrhunderflut ihre Familie buchstäblich vom Mittagstisch weggespült, weil keiner sie gewarnt habe. Und noch immer sehe es an manchen Stellen in Breslau aus wie nach dem Krieg, sagt sie im Hinausgehen. Die Wassererosionen haben nicht nur ihre Spuren in der Landschaft hinterlassen, sondern auch in den Menschen. Aber den Film „Titanic“, den könne sie sich inzwischen schon wieder ansehen.
Zwei Stunden später steige ich in Katowice um. Die Hamsterbacken glühen mir beim Aussteigen nach, während mich auf dem Bahnhof ausgemergelte Junkies wie auf dem Vorplatz von Hamburg-St. Georg erwarten und alten Kuchen verkaufen. Weitere zwei Stunden verbleiben bis zum Anschluss, der Geldautomat verweigert der Karte den Dienst, und mir fällt ein, dass ich die Adresse des englischen Freundes in Bielsko-Biala zu Hause liegen lassen habe. Zwei Stunden zwischen Spritzen und Spritzgebäck – bloß erst mal weiter. Als der Zug Katowice verlässt, geht die Sonne unter, in Bielsko-Biala ist es stockdunkel bei meiner Ankunft.
Ausländisch spricht niemand, aber wonach sollte ich auch fragen, ohne Adresse? Doch als sich die Reihen der Angekommenen lichten, steht am Ende im schwachen Schein einer Bahnhofsfunzel der Freund. Wir gehen in seine Stammkneipe, eine von vielen, von außen kaum zu erkennenden Souterraingaststätten, und trinken Wein. Hier treffen sich die Englischlehrer vom International House und sprechen Englisch, und junge Polen, die Polnisch miteinander reden. Zigarettenpromotorinnen kommen herein – Pumucklperückte Go-West-lerinnen und Come-to-Marlboro-Country-Girls auf High Heels in rotem Latex – und verteilen Zigaretten. Das Rauchen verbindet. Erst mit dem letzten Bus fahren der Freund und ich in seine Wohnung am Stadtrand.
Am nächsten Morgen schälen sich aus dem Frühdunst die Beskiden, und die Sonne bricht wieder durch. Der Freund begleitet mich nach Auschwitz. Es gibt keine direkte Busverbindung zu dem ehemaligen KZ, und wir müssen uns mit Händen und Füßen durchfragen, als uns der Busfahrer irgendwo vor der Stadt rauslässt. Vorbei an mausgrauen Häusern und kahlen Hainen und Feldern gelangen wir schließlich zur Holocaust-Gedenkstätte. „Arbeit macht frei“ steht dort tatsächlich im schmiedeeisernen Bogen des Tores, allerdings hatte ich mir das nach Bildern und Filmen viel größer vorgestellt. Dieses ist klein und eng, und dahinter stehen zahlreiche Backsteinhäuser in Reih und Glied wie die Zelte auf einem römischen Feldherrencampus. Auschwitz ist heute Museum, und die Häuser dienen der Erklärung oder zumindest der Dokumentation des Genozids. Vielleicht ist es deshalb in den Häusern so grabeskalt.
Im nur wenige Kilometer entfernten Lager Birkenau gehen wir über mehrfach verbrannte Erde. Einige der Baracken stehen noch, von etlichen lediglich die Schornsteine, von den Krematorien nur Reste der Grundmauern. Schautafeln zeigen die einzigen drei, von einem Lagerinsassen heimlich aufgenommenen Fotografien aus Birkenau. Zu sehen sind darauf nackte Frauen, die in die Gaskammern getrieben werden, und verbrannte Leichen am hinteren Ausgang im Wald. Auf diesem Boden stehen wir, auf der Asche von zigtausenden Menschen irgendwo darunter. Der Zyklus der Jahreszeiten hat ihre Spuren verwischt, längst riecht es hier wieder nach Moder und Tannen, und Rehe tummeln sich auf der brachliegenden Landschaft mit Schienenschneise.
Per Anhalter fahren wir zum Busbahnhof von Auschwitz, ein rundum runder Pole nimmt uns mit. In seinem Wagen duftet es wie im Badezimmer, dank zweier moschusgetränkter Aromabäumchen. Sie verdrängen den Geruch qualmender Asche im Kopf. Der Bus zurück nach Bielsko-Biala hält an jeder Milchkanne, und für eine Weile begleitet uns ein alter Mann mit seinem selbst gebastelten Marienepitaph aus Alufolie, bunten Rüschen und einer Puppe. In und vor den Kirchen, die wir passieren, sammeln sich die Polen zur Vesper. Jeder trägt hier sein Kreuz.
Einen Tag verweile ich noch in Bielsko-Biala, vor allem im Stadtmuseum. Eine Fundgrube historischer deutscher Dokumente, mit denen die durcheilenden polnischen Schulklassen nichts anzufangen wissen.
Später, in der Kirche der göttlichen Vorsehung (Kosciol Opatrznosci Bozej) am nach ihr benannten Platz ist es zur Nachmittagsmesse voll. Alles leuchtet und glänzt hier. Die Leiden Christi in goldenen Rahmen an den Wänden pflastern den Weg durchs Schiff, erhellt von Kristallleuchtern und begleitet von kunstvoll gefassten Schnitzfiguren. Hier geht man im sprichwörtlichen Paradies auf Erden beten.
Eineinhalb Tage drauf bin ich in Krakau und komme an einem Kino vorbei, in dem Til Schweigers Film „Knockin' On Heavens Door“ läuft. Da hatte ich auch kurz angeklopft, als ich tags zuvor im aufgeräumten und wallfahrtserprobten Wadovice Wojtilas und 14 Kilometer weiter am kleinen Vatikan auf dem Berg von Kalwaria Z. angehalten hatte. Jetzt starre ich mit hundert anderen Menschen in den sternenblauen Himmel der Krakauer Marienkirche.
Die Decke wird gerade restauriert, was die Gläubigen hier ausnahmsweise einmal mehr zu interessieren scheint als die Zwiesprache mit dem Herrn. Mit gefalteten Händen schauen sie nach oben blickend den Arbeitern auf den Gerüsten zu. Ganz am Ende, im Kirchenchor, scheinen die lebensgroßen Figurinen von Veit Stoß' Marienaltar darüber in sich hineinzulächeln.
In der Kathedrale auf dem Wawel hat derweil eine Nonne die Altarkerzenhalter der heiligen Hedwig zu putzen begonnen. Diese war einmal Königin von Polen, die erste Frau von Wladislaw Jagiello, von ungewöhnlicher Göttlichkeit in ihrem Leben und voller Wunder nach ihrem Tod – erzählt man sich.
Aus einem Eimer schöpft die Nonne gelbe Margeriten und schmückt den Altar mit den Blumen, als betreibe sie Ikebana. Mehrfach tritt sie zurück und begutachtet ihr Arrangement zufrieden, am Ende lange in sich versunken, mit dem Mann, der die Billets für den Glockenturm kontrolliert. Diese Gottesfürchtigkeit fast überall in Polen treibt keine Flut davon, denke ich. Schon gar nicht das Wasser aus dem Blumeneimer, den der Kontrolleur beim Weggehen gedankenverloren umstößt.
Draußen, auf dem Maly Rynek, dem großen Platz, auf dem auch die Marienkirche und die berühmten Tuchhallen stehen, schieben dick eingepackte Frauen gläserne Wagen vor sich her und verkaufen Hefekränze, ein Pantomime in weißen Rüschen spuckt bunte Bälle aus, Volksmusikanten spielen alte Weisen, Kutscher warten vergeblich auf Mitfahrer. In Krakau ist keine Saison. In allen Hotels der Stadt sind Zimmer frei, die anderen belegen Geschäftsleute.
Im Café Botanica, in einer kleinen Seitengasse vom Maly Rynek, spricht mich ein junges, dunkelhaariges Mädchen in einem blauen Wollmantel an, das fast aussieht wie Anne Frank auf dem Cover ihres Tagebuchs. Sie sei Architekturstudentin, erklärt sie in knappem Englisch. Zwischen Salat und Kaffee erzählt sie von einem weißen Mehrfamilienhaus, ihrer Antwort auf die grauen Platten rund um Krakaus alten Stadtkern. „Krakau, das ist alles Kultur, wie Rom, Florenz oder Paris. Es ist einfach wunderschön. Immer, wenn ich dort hinfahren kann, ist das für mich, wie wenn man mir als kleinem Mädchen ein Stück Schokolade gegeben hat“, hatte mir die Mutter mit dem Nachzügler auf dem Hinweg erzählt. Irgendwo hier muss ihr Hamster jetzt wohl abspecken, überlege ich, während eine junge Frau bereits die Erweiterung des krakauischen Speckgürtels plant.
Auf der achteinhalbstündigen Rückfahrt nach Berlin am andern Tag sitze ich mit zwei Polinnen und ihren Teenagertöchtern in einem Abteil. Die haben einen Haufen polnischer Frauenzeitschriften dabei, die Claudia oder Woman heißen, viele Modeseiten haben, Einrichtungs- und Diätvorschläge. Ich blicke nach draußen und frage mich, ob über diese Schienen wohl auch die Transporte zu den Konzentrationslagern gingen. Neben mir lachen die Mütter und Töchter, ich verstehe nicht, worüber. Aber ihr Lachen holt mich ins Diesseits zurück: Ich habe am Himmel angeklopft, jetzt soll er warten.
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