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„Das Militär war völlig durcheinander“

Emre sitzt in den Trümmern von Izmit und kämpft mit den Fragen in ihrem Kopf. Warum konnte sie nicht bleiben, um einen verschütteten Freund zu befreien? Warum halfen ihr weder Feuerwehr noch Soldaten?  ■   Aus Izmit Jürgen Gottschlich

Izmits Feuerwehrchef Emin Bey: „Jeder meiner Leute war von dem Beben persönlich betroffen. Und die Armee war auch mit sich selbst beschäftigt.“

Emre ist eine kleine, zierliche Frau. Ihr dunkelblondes, schulterlanges Haar hat sie nach hinten gebunden. Beim Sprechen bewegt sie ihren Kopf ruckartig. Sie hat Schmerzen im Nacken und in den Schultern. Emre ist 32. Vor einer Woche war ihr Gesicht wahrscheinlich noch dominiert von etwas kindlichen Zügen. Jetzt ist dieses Gesicht verquollen und alt.

Emre hat Schmerzen. Sie sitzt auf einer Parkbank am Rande eines Teiches. In ihrer unmittelbaren Umgebung sieht alles aus, wie es an einem schönen Sommertag im August aussehen soll. Der Park ist gepflegt, Blumen blühen, im Hintergrund scheinen Leute zu picknicken. Dieser Eindruck trügt natürlich. Tatsächlich wird in dem Park gelebt – überlebt. Der Park ist eine Oase des Lebens inmitten einer verwüsteten Stadt.

Izmit, die Industriemetropole am östlichen Ende des Marmarameeres, ist bis auf das Stadtzentrum zerstört. Die Stadt, wie sie vor drei Tagen aussah, existiert nur noch im Kopf der Überlebenden. Bei Emre ist es jedoch gerade die Erinnerung, die sie quält, weit mehr als ihre angebrochenen Rippen und die Prellungen, die sie am ganzen Körper davongetragen hat.

Emre ist Schauspielerin und Tänzerin. Sie unterrichtet am staatlichen Konservatorium in Istanbul, aber ihre Liebe gehört dem Theater in Izmit. Seit Jahren ist sie Mitglied des Izmiter Theaterensembles, sie hat in Izmit eine zweite Wohnung und mehr Freunde als in Istanbul.

In dieser Woche sollte in Izmit eine Theaterwoche beginnen. Wie die Erinnerung an eine lange zurückliegende Zeit weht über einer der Durchfahrtsstraßen im Stadtzentrum noch immer ein Transparent: „Straßentheater Festival Izmit Beginn: 20. August“.

Montag, 16. August. Emre ist mit der Vorbereitung des Festivals beschäftigt. Am Abend kommen noch Kollegen bei ihr zu Hause vorbei, um organisatorische Fragen zu besprechen. Zwei bleiben über Nacht, außerdem sind noch ihr Freund und ihre Tochter in der Wohnung.

„Wir sind spät zu Bett gegangen, ich war erst gerade eingeschlafen, als ich von diesem unheimlichen Grollen wach wurde“, sagt Emre. Dieses Grollen, dieser dumpfe, aber unheimliche laute Ton, ist etwas, woran sich alle erinnern, die in dieser Nacht von Montag auf Dienstag um 3.14 Uhr von dem überrascht wurden, was sich als türkisches Jahrhundertbeben herausstellte. „Meine erste Assoziation war Atombombe. Ich habe mir das Geräusch einer Atombombenexplosion immer so vorgestellt.“ Die folgenden 45 Sekunden sind für Emre die längsten Sekunden ihres Lebens. „Es war eine Ewigkeit. Ich dachte, es hört nie wieder auf“. Es gibt unterschiedliche Schilderungen darüber, was Leute in diesen Sekunden gefühlt haben. Emre sagt: „Ich dachte, ich werde eins mit den Gegenständen und Steinen um mich herum. Wir lösen uns alle auf in ein und derselben Materie“. Als es vorbei ist, ist ihr Haus schwer beschädigt, aber es steht. „Ich habe meine Verletzungen erst Tage später wahrgenommen. Ich lebte, meine Tochter lebte, mein Freund lebte, und unsere Gäste waren am Leben.“

Alle zusammen gehen sie rüber zum Theater, wo nach und nach Freunde und Bekannte eintreffen. „Wir waren ungeheuer erleichtert. Die meisten Häuser im Zentrum standen noch, die Freunde schienen versammelt. Erst als es hell wurde, als das erste Durcheinander sich lichtete, bemerkten wir: Der fehlt ja, wo ist die denn; hat jemand den und den gesehen?“

Emre und vier weitere Schauspieler fahren zum Haus eines Kollegen, der nicht aufgetaucht ist. „Es handelte sich um einen guten Freund von mir. Wir haben lange zusammengearbeitet. Als ich sein Haus sah, dachte ich sofort: Er ist tot. Hier kann niemand überlebt haben“.

Doch dann hören sie Stimmen aus dem Trümmerhaufen. Schwache Stimmen. Außer den fünf SchauspielerInnen kümmert sich niemand um das zusammengebrochene Haus. Alles ringsherum istzerstört, vor den Trümmern stehen bloß die Überlebenden.

Emin Bey ist Leiter des Krisenzentrums und von Beruf Chef der Feuerwehr von Izmit. Gegenüber der taz bestätigt er, dass tatsächlich erst am Dienstagabend professionelle Bergungteams im Einsatz waren. „Wir mussten ja erst einmal zu uns kommen. Jeder meiner Leute war von dem Beben persönlich betroffen.“ Auch Verstärkung aus anderen Landesteilen traf erst am späten Dienstagnachmittag ein. Auf die Frage, wo denn die Armee geblieben sei, grinst Emin Bey etwas verlegen. „Die war doch mit sich selbst beschäftigt“, sagt er dann unter Anspielung auf die zerstörte Marineakademie in Gölcük, einem Vorort von Izmit. „Die waren selbst völlig durcheinander.“

„Aber jetzt sind sie dabei“, schiebt er noch hinterher, „sie sind in die Rettungsarbeiten integriert.“

Generalstabschef Hüseyin Kivrikoglu hatte am Freitagabend die Kritik an den Streitkräften beleidigt zurückgewiesen. Von Beginn an seien 53.000 Soldaten im Einsatz gewesen. Die jetzige Mäkelei würde nur die Soldaten demotivieren. Wo die restlichen 450.000 Soldaten in den ersten zwei Tagen nach dem Beben waren, sagte Kivrikoglu nicht.

Emre und ihre Freunde habenvon diesen 53.000 an jenem verheerenden Dienstag keinen einzigen gesehen. „Wir begannen einfach, mit bloßen Händen den Schutt wegzuräumen. Wir haben die Stimme unseres Freundes und die Stimmen anderer Verschütteter gehört. Wir haben wie besessen gearbeitet“, sagt Emre und fixiert einen Punkt, der weit hinter demTeich und dem ganzen Park liegen muss. „Am späten Nachmittag wussten wir, dass wir nicht mehr weit von den Verschütteten entfernt waren. Wir haben bereits Brot und Wasser bereitgestellt, es konnte nicht mehr lange dauern, bis wir den Freund sehen mussten. Doch dann kam die Panik.“ Emre wendet ihr Gesicht ab, ihre Stimme bekommt einen monotonen Klang. „Vor unseren Augen brach das Feuer aus, kaum einen Kilometer entfernt. Wir bekamen eine entsetzliche Angst. Im Autoradio sagten sie nichts. Wir wussten nicht, was los war. Wir schauten uns um und sahen, dass andere Leute flohen. Wir gerieten auch in Panik. Wir sind abgehauen. Wir sind abgehauen, obwohl wir unseren Freund rufen hörten, obwohl wir ihn fast erreicht hatten.“

In Izmit steht die größte Ölraffinerie der Türkei. In 30 riesigen Tanks lagern 700.000 Tonnen Rohöl, Benzin oder andere Rafinnerieprodukte. Durch einen umgekippten Turm, über den Rohöl in die Tanks gepumpt wird, wird am frühen Dienstagabend einer der Tanks in Brand gesetzt. Tausende Tonnen Öl stehen auf einen Schlag in Flammen.

Emre und ihre Freunde warten darauf, über das Autoradio zu erfahren, ob die gesamte Anlage in die Luft fliegen würde und ob es Bemühungen gebe, das Feuer einzudämmen. „Es gab keinerlei Information. Aber wie alle in Izmit wussten wir, daß diese Anlage eine potentielle Bombe ist.“ Emre und ihre Begleiter fliehen über den einzigen Weg, den es aus Izmit noch hinausgibt – nach Norden, nach Kefken ans Schwarze Meer. „Alle Leute, die so glücklich waren, sich bewegen zu können und die ein Auto hatten und damit wegkamen, trafen sich in der Nacht in Kefken.“

Tatsächlich weitet sich der Brand in der staatlichen Tüpres-Raffinerie in der Nacht und am folgenden Tag weiter aus. Bis die ersten Löschflugzeuge eintreffen und Chemikalien auf den Brandherd sprühen, vergehen 36 Stunden. Bis dahin stehen acht Tanks in Flammen. Der Himmel über Izmit ist schwarz von Rauch.

„Man konnte kaum noch atmen“, sagt Feuerwehrchef Emin Bey. Warum man die Menschen in Izmit nicht informiert hat, weiß er nicht. „Das müssen Sie die Leute von Tüpras fragen.“ Der Werksdirektor gibt später zu, dass die Löscharbeiten zu spät begonnen haben. Der frühere, pensionierte Werksleiter berichtet im Fernsehen dann auch, warum das so war. Die Angestellten von Tüpras, die werkseigene Feuerwehr, hatten das Werk längst verlassen, um sich um die eigenen, verschütteten Familien zu kümmern. Sicher gab es Pläne zur Brandbekämpfung, sicher waren Leute im Werk dafür ausgebildet. Was es nicht gab, war ein Szenario, wie man sich bei Brand und Erdbeben zugleich verhalten sollte. Dieser Fall war nicht vorgesehen. Da niemand da war, gab es auch keine Informationen. Da sich in unmittelbarer Nachbarschaft der Raffinerie eine Düngemittelfabrik befindet, in der 8.000 Tonnen hochgiftigen Ammoniaks lagern, bestand aller Grund, sich möglichst schnell in Sicherheit zu bringen.

Der Fall Tüpras ist nur das Extrembeispiel, für den Mangel an Vorbereitung auf die Eventualität eines großen Bebens im Westen der Türkei. Es gab offensichtlich keine Katastrophenpläne, es gab keine vorbereiteten Krisenzentren, es gab bis Ende der Woche noch nicht einmal eine Instanz, die die große private Hilfsbereitschaft hätte koordinieren können.

Die Regierung Ecevit hat sich zunächst mit dem schieren Ausmaß des Bebens gerechtfertigt und argumentiert, auch der Staat könne keine Wunder vollbringen. Als die Kritik zunahm, feuerte man die Gouverneure der drei am stärksten betroffenen Provinzen Kocaeli, Yalova und Sarkaya und ersetzte sie durch neue Beamte aus dem Innenministerium.

Das wird nicht reichen. Inzwischen muss sich die Regierung dafür rechtfertigen, dass weitere Bergungsarbeiten eingestellt werden, weil so gut wie keine Hoffnung mehr besteht, noch Lebende zu finden. Derweil herrscht im Erdbebengebiet akute Seuchengefahr, die Leichen müssen möglichst schnell unter die Erde.

Schon in den letzten Tagen musste man darauf verzichten, die Toten nach muslimischem Ritus zu waschen und angemessen zu bestatten. Das Wasser, mit dem man die Leichen gewaschen hätte, wäre anschließend hochgiftig gewesen. Alles musste schnell gehen. So wurden die Toten nur noch für eine spätere Identifizierung fotografiert und in eilig ausgehobenen Gruben verscharrt. Das ist ein Verfahren, das viele Angehörige zutiefst verbittert. Seit dem Wochenende macht, verbreitet von der Zeitung Sabah, ein Gerücht die Runde, das Ecevit und seine Regierung die Köpfe kosten kann. Der Leiter des Seismologischen Instituts der Türkei, ein Mann namens Ahmet Mete Isikara, soll ein Mitglied der Regierung Tage vor der Katastrophe gewarnt haben. In Ankara habe man entschieden, die Warnung nicht publik zu machen, um keine Panik auszulösen.

Emre ist nach zwei Tagen nach Izmit zurückgekehrt. „Wir haben erfahren, dass unser Freund einen Tag später aus den Trümmern geborgen wurde. Man hat ihn sofort ins Krankenhaus gebracht. Das war am Mittwochabend. Gestern ist er dort gestorben.“

Im Park blühen Blumen. Wie an einem schönen Sommertag. In Emres Gesicht steht: Hätten wir weiter gemacht, statt zu fliehen, wäre er noch am Leben. Emre sagt das nicht. Emre sagt: „Es gibt viele solche Geschichten in Izmit, in diesen Tagen.“

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