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Sie fliegen auf Süßes

Umsiedlung statt Gifttod: Ein gelernter Maurer rettet Hamburger Wespen und Hornissen  ■ Von Volker Stahl

Sie lieben Pflaumenkuchen, verschmähen auch herzhafte Snacks nicht und balancieren mit Wonne auf den Rändern von Gläsern, in denen Alsterwasser sprudelt. Wespen können sogar besonnene Zeitgenossen aus der Fassung bringen. Doch Michael Neumann meint, kein Grund zur Panik: „Die Tiere stechen nur, wenn man sie reizt.“ Selbst dort, wo die Insekten ihr Heim direkt überm Balkon erbaut haben, ist die Schädlingsvernichtung völlig überflüssig. Denn Neumann siedelt Wespen einfach um.

Wespen-Alarm in der Fritz-Schumacher-Allee in Langenhorn. Unter dem Dach eines Gartenhäuschens haben sich Wespen ein kunstvolles Gebilde aus zerkautem Holz und Speichel geschaffen. Nachdem Neumann, der eigentlich ein gelernter Maurer ist, das Nest geortet hat, wählt er eine Box für den späteren Transport. Ein weißer Imkeranzug aus imprägnierter Baumwolle, eine mit Draht vergitterte Haube und ein Paar Gummistiefel sollen ihn vor Stichen schützen.

Bis zu 20 Anrufer suchen täglich Neumanns Rat, 25 bis 30 Völker siedelt er pro Jahr um. Auch beim heutigen Einsatz, den er mit 150 Mark in Rechnung stellt, kommt der 31-Jährige nicht ungeschoren davon. Einige hundert Wespen stürzen sich sofort auf den vermeintlichen Aggressor. Vorsichtig pfropft Neumann das Nest in die mit Papiertaschentüchern gepolsterte Box. Umsiedlungen führt er nur dann durch, wenn seine Überredungskünste versagen: „Sind die Nester im Garten, in Hecken oder im Komposthaufen, dann sollten sie da bleiben. Dort gehören sie hin.“ In Rekordjahren wird Neumann 50 bis 60 Mal gestochen. Für Allergiker eine Horrorvorstellung. Doch „für einen gesunden Mann“, so weiß Neumann, „besteht erst ab 800 Stichen von Wespen oder Hornissen Lebensgefahr.“

In Mitteleuropa gibt es elf verschiedene Wespenarten, neun von ihnen stehen unter Naturschutz, darunter die zu den sozialen Faltenwespen zählende und stark bedrohte Hornisse. Neben der häufig vorkommenden Deutschen Wespe genießt nur die Gewöhnliche Wespe keinen besonderen Schutz. Dennoch liegen auch diese Arten Neumann am Herzen: „Wespen sind keine Schädlinge, sondern Nutzinsekten. An guten Tagen fangen sie mehr Mücken, Fliegen und Läuse als eine Spinne im ganzen Jahr.“

Kaum jemand weiß, dass nur die verrufene Deutsche und die Gewöhnliche Wespe zu den „Nervensägen“ der Wespenfamilie gehören: Nur sie fliegen ab Anfang August auf alles, was süß ist. Nach wochenlanger Brutpflege wollen sie ihren kurzen Lebensabend genießen. Weil sie im Nest nicht mehr gebraucht werden und ihre Nahrungsquellen langsam versiegen, suchen sie überall Zucker.

Nachdem Neumann das Nest in der Box auf ein Regal in unmittelbarer Nähe des ursprünglichen Standorts gestellt hat, wartet er die Dauer eines gewöhnlichen Fußballspiels ab. „So lange brauchen die Tiere, bis sie sich beruhigt haben und in ihr Nest zurückkehren.“ Wie kam der junge Mann zur Wespe? Im Alter von sieben Jahren beobachtete er in einem Schrebergarten Hobbygärtner, die einem Erdnest mit einem Wasserstrahl den Garaus machten. Die zerbrochenen Waben und halbverendeten Tiere sammelte der verstörte Junge aus Mitleid auf: „Genützt hat es nichts, aber auf einmal war die Faszination da.“

Während Neumann erzählt, kehren die Wespen in ihr Nest zurück – nur wenige bleiben zurück. Der Wespenvater verschließt den Deckel und nimmt die Kiste mit ins niedersächsische Zeven. Hier lebt er, hier siedelt er seine geborgenen Wespenvölker neu an. In seinem Garten leben zur Zeit acht Völker. Die große Entfernung zu Hamburg ist von Vorteil: „Wenn das neue Zuhause nur zwei, drei Kilometer entfernt wäre, bestünde die Gefahr, dass die Tiere ihr altes Revier erkennen und zum ursprünglichen Ort zurückfliegen.“

Kontakt: Michael Neumann, 04281/6477

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