piwik no script img

„Die Diebe steh'n nicht auf die weiche Tour“

Fang den Dieb: Eine Münchner Agentur trainiert Berliner Filialleiter im Kampf gegen die Langfinger am Wühltisch    ■ Von Kirsten Küppers

Ein flimmerndes Video zeigt Kaufhausszenen: Eine Frau räumt ungeniert Unmengen an Modeschmuck in eine große Plastiktüte und schlendert nonchalant davon. Die Verkäuferin steht hilflos daneben. Empört normalerweise solch dreister Ladendiebstahl den gewöhnlichen deutschen Einzelhandelsvertreter, zuckt an diesem Montag kein Berliner Filialleiter hinter seinem Namensschildchen zusammen. Die 14 Händler, alle aus Berliner Zweigstellen großer Ketten der Textil-, Multimedia- oder Zeitschriftenbranche, werden im neonbeleuchteten Tagungszimmer des Mercure Hotels gegen Ladenklau fit gemacht. Das „Business Security Training“ wird von Jürgen Schmid, einem Herrn in grauem Anzug, und seiner Kollegin Katja Paul, geleitet. Die beiden sind Mitarbeiter der Münchner Firma „11 Freunde“, die derzeit unter dem Motto „Innenstadt gegen Langfinger“ durch deutsche Städte tourt.

Was die Videovorführung angeht, sind die Berliner Schulungsteilnehmer in der Tat ganz andere Dinge gewohnt. „Da kommt eine Bande, klaut den Laden leer und droht bei Einschreiten Prügel an“, erzählt eine Vertreterin einer großen Bekleidungsfilliale in der Innenstadt. Seminarleiter Jürgen Schmid nickt gequält.

Denn was in verschiedenen Kreisen entweder als sportliche Ehrensache, billige Existenzsicherung oder Sich-die-Zukunft-Ruinieren durchgeht, kostet die Branche viel Geld: Ladendiebstahl richtet in der Bundesrepublik jährlich einen Schaden von fast 100 Millionen Mark an.

Damit man weiß, wer die Übeltäter sind, erstellen die Teilnehmer erst einmal auf dem Flip-Chart ein Täterprofil. „Osteuropäer“ schießt es aus einem schnauzbärtigen Chef hervor. Als der mit schwindligen Rassismen zu entgleisen beginnt, beschwichtigt Katja Paul den aufgebrachten Mann mit Hilfe der Statistik. Derzufolge gehe der Ausländeranteil bei Dieben zurück, während die Jugendkriminalität steige. Die anderen werfen klauende Omis und Hausfrauen ins Feld. Am Ende einigt man sich auf die tolle gerechtigkeitsstiftende Formel: „Jeder ist ein potentieller Dieb.“

Damit dann auch alles per jure in Sack und Tüten ist, schiebt Schmid rechtliche Grundlagen nach: „Ausgepreistes Hemd anziehen und den eigenen Pulli drüber ist bereits vollendeter Diebstahl.“ Ebenso, wenn der Schlussverkaufsbikini in den zusammengeklappten Regenschirm wandert, auch wenn der Schirm den Laden noch nicht verlassen hat.

Die Idee der Anti-Klau-Schulung trifft den Nerv der Einzelhändler, die zwar Detektive und Videoüberwachung ins Rennen schicken, sich aber trotzdem seit Ende der 80er Jahre, wie das Bundeskriminalamt ausweist, mit einer steigenden Zahl von Ladendiebstählen konfrontiert sehen. Berlin, Bremen und Frankfurt sind dabei bundesdeutsche Spitze, wobei es laut Teamleiterin Paul gerade in Berlin auf beiden Seiten des Ladentisches zu drastischen Auswüchsen kommt: „Hier haben die Verkäufer teilweise Knüppel unterm Tresen, weil die Diebe unverfrorener vorgehen als anderswo.“

Glaubt man Einzelhandelsvertretern und Experten vom Eurohandelsinstitut, sind jedoch nicht nur die Kunden das Problem. Die Täter finden sich genauso in den eigenen Reihen: Die Angestellten pfuschen an der Kasse, kungeln mit Spediteuren oder schmuggeln die Ware in Mülltüten raus, klagen die Teilnehmer. So verursacht „Mitarbeiterdiebstahl“ bisweilen bis zu über 40 Prozent der Inventurdifferenz.

Jürgen Schmid pocht deswegen auf „Kontrolle, Kontrolle, Kontrolle“, die Regionalleiterin einer Bekleidungsfirma kommt im Brainstorming noch auf „durchsichtige Mülltüten“, bevor sich die Gruppe wieder der zahlungsunwilligen Kundschaft widmet.

Verdächtig um die Wühltische Schleichende soll man ansprechen, ruhig auch zwei- oder dreimal. Obwohl eine junge Verkäuferin eines Trendhauses das altbackene „Darf ich Ihnen behilflich sein?“ als „absolut passé“ abkanzelt, beharrt Teamleiter Schmid darauf, dass ein solches Angebot die Hälfte aller Diebstähle verhindert. Genauso abschreckend wirken Spiegel in uneinsichtigen Nischen.

Befindet sich die geklaute Ware indes schon in der dicken Handtasche, gilt es nicht, Zeter und Mordio zu schreien, sondern den Dieb „diskret in Richtung Büro zu schieben“. Keine Schulung ohne Rollenspiel: Damit das Schieben im Ernstfall klappt, übt sich der Vertreter von „Diesel“ am Ku'damm im Breitbeinig-Aufstellen – goldrichtig finden das die anderen, weil „in Berlin steh'n die Diebe nicht so auf die weiche Tour“. Trotzdem mahnt Schmid, „nicht den Sheriff“ zu spielen, denn im Zweifelsfall solle man einen Täter lieber laufen lassen, „bevor er einem was antut“. Ist der Verdächtige dagegen sicher ins Büro abgeführt, sei es erlaubt, ihn dort einzusperren, bis die Polizei eintrifft. Überhaupt gerieren sich die Münchner als Hardliner: Jeder geklaute Radiergummi sollte angezeigt und das Hausverbot gleich lebenslang verhängt werden. „Weshalb sollten Sie eine Person im Geschäft haben, die nicht willkommen ist?“, fragt die eben noch harmlose Katja Paul.

Die Angestellten so auf Trab zu bringen, sei inzwischen unumgänglich, resümiert ein älterer Mitarbeiter eines Elektronikwarenhauses in einer Kaffepause. Denn mit immer ausgeklügelteren Sicherungssystemen wie Farbplomben oder magnetstreifengesicherten Preisschildern würden auch die Täter raffinierter. Um der elektronischen Sicherung zu entgehen, werden Handtaschen mit Alufolie ausgeschlagen oder der Alarmbutton an der Ware mit professionellem Werkzeug entsichert. Katja Paul nennt das „kreative Intelligenz der Diebe“.

Dass die jedoch vielleicht nur schüchterne Karnelvalsmuffel sind, könnte man dagegen einer in der Zeitschrift Dynamik im Handel publik gemachten Studie des Eurohandelsinstitut von 1997 entnehmen. „In der Karnevalswoche fiel die Differenz sowohl stückzahl- als auch wertmäßig fast doppelt so hoch aus, wie in den übrigen Kalenderwochen“, heißt es da. Eine Analyse besonders diebstahlgefährdeter Artikel ergab, dass Ladendiebe Kondome, Rasierklingen und Energiesparlampen bevorzugen. Ersteres erklärt die Studie mit dem Schamgefühl mancher Kunden, „womit auch hohe Diebstahlraten bei Hämorrhoidensalben zu erklären sind“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen