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Zu Hause im Kino

Abgründige Provinz und abwegige Verwandtschaftsverhältnisse: Robert Altmans Alterswerk „Cookie's Fortune“ ist eine Südstaaten-Milieustudie, die subtil in den Mainstream des Wiedererkennens führt  ■   Von Ulf Erdmann Ziegler

Um dem Zitatproblem auszuweichen, sind in Altmans Film keine Fernseher am Set zu sehen

Es ist doch erstaunlich, wie weit die Amerikaner mittels des Kinofilms es geschafft haben, uns Details ihrer Gesellschaft und Geografie nahe zu bringen. Mühelos stimmen wir uns ein auf die Heimeligkeit einer Stadt im Nordosten – es ist Winter –, auf die Schachbrettfabel des Mittleren Westens, auf das Drängende und Gleißende von Los Angeles. Der Südstaatenfilm ist eine weitere Kategorie. Wenn er klassisch gemacht ist, kommt er ohne Beschleunigung des Tempos aus. Armut wirkt eher pittoresk, die Fliegentüren bieten semipermeable Membrane, das evangelikale Treiben wirkt volkstümlicher als anderswo.

Der Nachteil ist: Die auf- und abwallende, näselnde Sprache lässt sich schwerlich synchronisieren. Ein Achternbusch auf Oxford-Englisch wäre in etwa das Äquivalent. So ist es etwas trügerisch, wenn uns Presseleuten eine untertitelte Fassung von Robert Altmans neuestem Film „Cookie's Fortune“ vorgespielt wird, während die meisten der Kopien dann doch deutsch übersprochen sind. An einer solchen Fassung würde mich eine Kleinigkeit interessieren: Was übersetzt man, wenn ein schwarzer Barmann einem Stammkunden attestiert: „He never drinks before Tom Brokaw“?

Die brillant montierte Anfangssequenz besteht aus Nachtszenen, einem geheimnisvollen Gleiten in Vermutungen, die den Wunsch des schauenden Publikums – etwas gezeigt zu bekommen, was nicht vorstellbar war – auf fantastische Weise wörtlich nehmen. So wird das Dreieck etabliert zwischen den Polizisten, die nichts zu tun haben, den Kriminellen, die keine sind, und den Bürgerlichen, die im Lichte ihrer presbyterianischen Kirche ihren kollektiven Spleen pflegen.

Die erste Dreiviertelstunde von „Cookie's Fortune“ ließ mir reichlich Gelegenheit, meinen eigenen Gedanken nachzugehen. Ich dachte mir nämlich, dass Anne Rapp, deren erstes Drehbuch hier verfilmt wurde, möglicherweise eine Schülerin von Syd Field wäre („Das Handbuch zum Drehbuch“ bei Zweitausendeins) und dessen Ratschläge über die Wichtigkeit des Setups und die Notwendigkeit eines Plot Point I etwas zu einfältig in die Tat umgesetzt hätte. Man sah ihn nämlich kommen. Ja, die etwas wunderliche, Pfeife rauchende Witwe namens Jewel Mae „Cookie“ Orcutt würde sich mit einer von ihrem Mann geerbten Pistole das Leben nehmen. Ein sicheres Entree für den zweiten Akt – nach Syd Field die „Konfrontation“ –, aber auch ein Verlust an schauspielerischem Personal, vorausgesetzt, Patricia Neal würde nicht Cookies Auferstehung spielen müssen.

Der Fall ist selten, aber hier trifft er zu: „Cookie's Fortune“ verdichtet sich in der zweiten Hälfte enorm; es gibt eine Menge zu lachen und zu weinen. Vor allem folgt die Autorin Rapp nicht dem Ratschlag Syd Fields, dass im Zentrum eines Films nur eine Person stehen darf und diese auch noch sympathisch sein müsse. Stattdessen ist die Aufmerksamkeit gleichmäßig verteilt auf zwei seltsam inzestuös verbundene Schwestern (Glenn Close und Julianne Moore), den schwarzen Haushälter (Charles S. Dutton) der nun verstorbenen Cookie, deren von ihrer Familie völlig entfremdete Großnichte (Liv Tyler) und ihren ungeschickten Lover (Chris O'Donnell).

Klassischer Sympathieträger bleibt nur Dutton als Willis Richland, der als rührende Onkel-Tom-Type eingeführt wird – bester Freund seiner Herrin –, in die Rolle des üblichen Verdächtigen gerät und sich schließlich als das bekennen darf, was er ist, als Mitglied der engsten Familie. Die Kompliziertheit der Geschichte hat gewiss einen wahren Kern und eine scharfe Kante: Amerikaner, die schwarz aussehen, haben oft einen weißen Elternteil und andersherum. „Cookie's Fortune“ reißt in exzentrischer Weise die Geschichte dieses Mannes auf, der Jahrzehnte über seine Herkunft Schweigen bewahrt, um in subalterner Funktion in Ruhe leben zu können. Als die zurückgekehrte Familiendissidentin Emma glaubt, Willis' Ahnengeschichte verstanden zu haben, fragt sie hoffnungsvoll: „Which means I'm half black?“, ein Missverständnis, das plastisch von der Angst spricht, white trash zu sein. Als Mulattin, denkt Emma, hätte sie wenigstens halbwegs Herz.

Indem die Schwestern den Selbstmord der Tante vertuschen und als Raubmord ausgeben wollen, kommt die Polizei ins Spiel, und damit wird es wirklich lustig. Es ist nämlich eine Polizei der Gefühle: Der Sheriff weiß, dass Willis seine beste Freundin nicht umgebracht haben kann, und der Jungpolizist – Dienstpflicht im Zweifelsfall als Eifer missverstanden – ist Emma verfallen. Die Interessenkonflikte gehen zwar von Amts wegen auf keine Kuhhaut, können aber die Wahrheitsfindung nicht aufhalten. Als der auswärtige Ermittler den Sheriff, Willis und Emma in der Gefängniszelle beim Scrabblespiel überrascht, wird seine rhetorische Frage – „Was ist das denn hier?“ – wörtlich beantwortet. „I suppose I'm your suspect“, sagt Willis in geübter Bescheidenheit, während er seinem schwarzen Bruder die Hand schüttelt.

Altmans Film spielt durchaus mit dem Gedanken, dass die Provinz abgründig sei; am Boden des Abgrunds aber lauern nicht mörderische Gedanken, sondern abwegige Konstruktionen von Verwandtschaft. Im Zentrum der familialen Erfindungen stehen die Schwestern: die dominante Camilla und die ihr gehorchende Cora. Sehr trickreich ist Rapps Idee, deren religiöse Bindung als Hort weltlicher Fantasien zu schildern. Camilla inszeniert nämlich in der Kirche Oscar Wildes „Salome“ als Osterschauspiel. Die Kuriosität des Laientheaters wird bis in die letzten Bonmots ausgespielt, mit richtigem Blut und falschem Blut, mit Wilde-Zitaten in der Notrufmeldung und auswendig gelernten Wahnsinnsszenen in der Gefängniszelle: Ein Theater, das davon lebt, wie hochprofessionelle Schauspieler als Laiendarsteller auftreten müssen. Wenn dann Emmas Polizistenlover im silbernen Rock des römischen Soldaten zur Wache zurückkehrt, wird die Grenze von Ernst und Unernst endgültig verwischt. Genau so will es Altman, der es mit Amerika nie so böse gemeint hat, wie behauptet wird.

Wir haben es – man vergisst das leicht – mit dem Spätwerk zu tun; Altman ist 74 Jahre alt. Sein Markenzeichen war die Überlagerung: eine Dichte von Sounds, geraffte Perspektiven, bewegte Kamera bei bewegten Figuren, rigide Schnitte. Das sind die Mittel von „Mash“, „A Wedding“, „The Player“, „Short Cuts“ und „Prêt-à-porter“. Dazu meint David Thomson in seinem biografischen Filmlexikon, dass die stilistische Ambition auf Kosten der Geschichten und der Führung der Schauspieler gegangen sei. Mit der grandiosen 30er-Jahre-Erzählung über seine Heimatstadt „Kansas City“ hat Altman den Simultankrach für die Akkuratesse seiner Milieustudie aufgegeben.

Es sind nun Figuren und Szenen, die die Erinnerung an den Film ausmachen, weniger konkrete Bilder. Man fragt also weniger, während man schaut und hört, „Was will Altman?“, als eher: „Wo will die Geschichte hin?“ Ein Naturalismusproblem drängt sich hier auf.

In den Filmen der jüngeren Autoren sieht man zwei gegenläufige Tendenzen. Die Charta-Dänen versuchen an den gesellschaftlichen Stoff näher heranzurücken; was zählt, sind Konflikt, Charakter, Sprache und Location. Auf der anderen Seite das jüngere amerikanische Autorenkino mit „Gattaca“ oder „Pleasantville“, als Vorläufer vielleicht „Hudsucker“ von den Coen-Brüdern. Da wird das ganze Szenario auf eine Annahme gebaut. Die Geschichte fußt in der Abstraktion. Sie ist nicht fantasy, sondern technisches, mediales oder politisches Märchen – und psychologisch raffinierte Ideenkunst zugleich.

Ein Autorenfilm, der zwar das Hollywood-Interesse negiert, aber die klassische Erzählform bedient

Indem Altman sich am ländlichen Milieu versucht, verschärft sich die Notwendigkeit, suggestiv zu erzählen. Wir haben es hier mit passionierten Anglern und Whiskeytrinkern zu tun, mit einer Villa, einer Kirche, einer Blues-Bar, einem Fischhandel, einer Polizeistation. Wenn aber die Charaktere stimmen und die Sprache südstaatlich durchgefärbt ist und die Location mit einer wirklichen Stadt gleichen Namens – Holly Springs, Mississippi – treffend gewählt: Wozu brauchen wir dann, bei jeder zweiten Gelegenheit, das schlierenhafte Spiel auf der Gitarre? Es ist der Ry-Cooder-Sound, auch wenn er diesmal aus einer anderen Quelle stammt.

Nun, wir brauchen den Sound vielleicht gar nicht (wie die Dänen uns zeigen), sondern die Regie und die Produktion brauchen ihn. Vielleicht glauben sie selbst nur noch bedingt an die imaginative Kraft ihres Griffs in die Kiste schrulliger Traditionalismen. Je besser ein Dialog sitzt, je erdiger eine Figur geformt wird, desto eher scheinen sich die Filmautoren selbst im Verdacht zu haben, die Szene sei aus einem anderen Film gestohlen. Um dem Zitatproblem auszuweichen, gibt es in diesem Altman-Film keine Fernseher am Set.

„Cookie's Fortune“ gibt auf jeden Fall ein gutes Beispiel ab für einen Autorenfilm, der klassische Interessen Hollywoods negiert und die klassischen Erzählformen dennoch lückenlos bedient. Wir befinden uns im Mainstream des Wiedererkennens; Catfish, Country Blues und ein gelber Ford-Pinto, das ist alles wie bei uns zu Hause – im Kino.

Trotz ihrer entnervenden Obsession mit der „verlogenen bürgerlichen Gesellschaft“ sind mir die Dänen zur Zeit näher. Ab und zu ist es so weit, und die Bescheidenheit der Mittel triumphiert. Die psychosoziale Landschaft Amerikas bleibt komplex, aber das Blättern in den Akten hochorigineller Klischees zum Geplänkel ethnografisch infizierten Kinopops bringt eine Spur von Unlust ins Spiel, die selbst dann nicht vergessen ist, wenn man sich gerade die Krokodilstränen trocknet. „Cookie's Fortune – Aufruhr in Holly Springs“. Regie: Robert Altman. Mit Patricia Neal, Glenn Close, Liv Tyler, Charles S. Dutton, Lyle Lovett u.a. USA 1998, 118 Minuten

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