: Natur? Zivilisation?
Seit es Zivilisation gibt und alles wie selbstverständlich den gesellschaftlichen Gesetzen und Moden folgt, treibt viele Gelehrte die Frage um: Was ist der Mensch ohne Gesellschaft? Den Seefahrer Alexander Selkirk plagte die Frage so sehr, dass er sich vor rund dreihundert Jahren auf einer unbewohnten Insel aussetzen ließ. Fünf Jahre später holte man ihn ab. Da konnte er nur noch stammeln.
Die erste Annährung an das Thema „wild – kultiviert“ ist die Sage von Romulus und Remus, die im Wald aufwuchsen und die eine Wölfin säugte. Kaum waren die beiden wieder unter Leuten, erschlug Romulus seinen Bruder. Auch heute noch sind Ethnologen auf der Jagd nach dem ursprünglichen Leben und besuchen Eingeborenendörfer in aller Welt.
Die bekannteste Variante vom Leben fernab der Zivilisation liefert aber die Geschichte Kaspar Hausers. Sein Schicksal ist besonders für die Pädagogik von Interesse, weil Hauser eine real existierende Person war, die die Kluft zwischen Natur und Kultur verkörpert. Sein jahrelanger Arrest ist wahrscheinlich keine Fiktion, auch wenn bis heute unbekannt ist, wo er die ersten sechzehn Jahre seines Lebens verbrachte. Nach eigenen Angaben wuchs er ohne Kontakt zu anderen Menschen in einem Kellerverlies auf. 1828 erschien er auf wackeligen Beinen vor den Toren Nürnbergs und wusste Worte nur zu stammeln.
Essen, das man ihm anbot, wollte er nicht. Als man ihm aber Brot und Wasser vorsetzte, griff er gierig zu. Eine erste Untersuchung ergab, dass Hauser die meiste Zeit im Sitzen verbracht haben musste, da seine Füße weich und seine Beinmuskulatur schwach waren. Für den damaligen Bürgermeister war Hauser die „höchste Unschuld der Natur“. Selbst wenn man eine Waffe auf ihn richtete, ging er nicht in Abwehrhaltung.
Betreut wurde er zunächst von Paul Johann Anselm von Feuerbach. Feuerbach gilt als der Begründer der modernen deutschen Strafrechtslehre. Später übernahm der Professor Georg Friedrich Daumer die Fürsorge für Hauser. Hauser lebte noch fünfeinhalb Jahre. Während dieser Zeit wurde er Aktenkopist, lernte Schach und überstand zwei Attentate. Das dritte war tödlich; allerdings ist nicht einwandfrei geklärt, ob Hauser sich die Stichwunde an der Brust selbst zugefügt hat. Geklärt ist seit 1996, dass Hauser nicht der Erbprinz von Baden war, wie es in den Salons jener Zeit gemunkelt wurde.
Den Beweis lieferte ein Gentest. Das dazu nötige Blut stammte von Hausers Unterhose, die nach seinem Tod in Ansbach, seinem letzten Wohnsitz, aufbewahrt wurde. Nach Hauser, dessen Geschichte 1993 verfilmt wurde, ist der Kaspar-Hauser-Komplex benannt.
Der Komplex bezeichnet Entwicklungsstörungen, die durch Kontaktarmut oder -unfähigkeit ausgelöst werden. Im Unterschied dazu stellt man mit dem Kasper-Hauser-Versuch in der Verhaltensforschung fest, ob bestimmte Verhaltensmuster bei Tieren genetisch festgelegt oder erlernt sind. Enno Bolten
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