: Im tiefen Tal der Kirchenglocken
„Mit vierzig sollte dann wirklich der große Hammer kommen“: Tobias O. Meißner ist literaturverrückt und ein bisschen größenwahnsinnig. In seinem zweiten Roman „HalbEngel“ geht es um den Aufstieg und Ausstieg eines amerikanischen Rockmusikers ■ Von Gerrit Bartels
Man mag es kaum glauben, doch es gibt sie noch: Die jungen Berliner Autoren, die in ihren Büchern kein Wort über Berlin verlieren. Und junge Autoren, die nicht meinen, Generationsromane schreiben oder ihre alltäglichen Erlebnisse und spärlichen Erfahrungen in Ich-Form zwischen zwei Buchdeckel packen zu müssen. Einer von ihnen ist Tobias O. Meißner. Der ist 32 Jahre alt, trägt die Haare mal lang, mal zu einem altmodischen Pferdeschwanz gebunden, lebt seit seinem zweiten Lebensjahr in Berlin, wohnt seit elf Jahren in Neukölln und nennt sich seit dem legendären Spiegel-Artikel über Neukölln einen „Nordneuköllner“: „Da gab es richtige Street Credibility. Brennende Mülltonnen, tägliche Schießereien und all der Quatsch. Ist aber seitdem richtig cool dort zu wohnen“.
Tobias Meißner hat mit „HalbEngel“ gerade seinen zweiten Roman veröffentlicht. In diesem beschreibt er in zwölf Kapiteln, die hier Rhythmen heißen (siehe auch unter Zwölftonmusik), den genauso kometenhaften wie minutiös durchgeplanten Aufstieg des amerikanischen Rockmusikers Floyd Timmen und seiner Band Mercantile Base Metal Index. Floyd Timmen aber ist ein Musiker, „der Wahrhaftigkeit und Seele in sowas Unfassbares wie Klang investiert“, wie Meißner gleich im ersten Rhythmus schreibt.
Insofern ist es beim Lesen von „HalbEngel“ ziemlich früh klar, dass es um so hehre und typische Frühneunziger-Rockmusik-Werte wie Sich-nicht-ausverkaufen-lassen und Authentizität geht, um den Rockstar als Heiland und Erlöser, und dass Timmen dem ganzen Rockbusiness später ganz logisch den Rücken kehrt.
Meißner, der sich zu Hause manche der Mercantil-Base-Metal-Index-Songs selbst auf der Gitarre vorgespielt hat, nennt sein Buch unter anderem ein „Planspiel, ein Börsenspiel“. Sehr genau beschreibt er mit Plattenkritiken, Interviews, Magazin-Reportagen, Studioaufnahmen, einem Livekonzert und anderen Fixpunkten des Betriebs die Superstarwerdung von Mercantile Base Metal Index. Und in Gegensatz dazu stellt er die Person von Floyd Timmen. Der hat in Form von Kirchenglocken schon im Alter von sieben oder acht Jahren die Schönheit von Klängen erfahren, lebt nur für seine Musik und stemmt sich mit aller Macht dagegen, von Business-Leuten, Fans und MTV vereinnahmt zu werden.
Unterhält man sich mit Meißner über sein Buch, sein Leben als Schriftsteller, über seine Probleme mit den Verlagen, kommt man nicht umhin, in ihm auch so eine Art Floyd Timmen zu sehen. Blass wie er ist, wirkt er zuerst ein wenig unscheinbar, wie er da an diesem Sonntagnachmittag in einem Kreuzberger Café sein Spezi trinkt. Doch immer wieder lässt er Vokabeln und Sätze fallen wie „Kompromisslosigkeit“, „unkommerziell“, „sich nicht prostituieren lassen“, „eine Wut haben, die einen antreibt“. Nicht ohne Grund: Meißner hatte einige Probleme mit der Veröffentlichung von „HalbEngel“, und er weiß auch nicht, wo und ob überhaupt ein nächstes Buch von ihm erscheinen wird.
Eigentlich nichts Ungewöhnliches für einen jungen Autoren, doch irgendwie ärgert ihn das: „Ich würde gerne mal zwei, drei Bücher hintereinander veröffentlichen. Warum die Verlage manche Bücher veröffentlichen und manche nicht, scheinen sie oft selber nicht zu wissen. Irgendwie sind die unfähig, auch nur ein klitzekleines bisschen visionär zu denken“.
Immerhin bekam Meißner vor zwei Jahren auch im Literaturbetrieb seine ganz eigene Street Credibility. Als „Szeneheld“ und „Kultautor“ feierte man ihn da anlässlich der Veröffentlichung seines Debütromans „Starfish Rules“, einem ziemlich chaotischen und fantastischen Splattermovie, das im Amerika der Dreißigerjahre spielt.
Ein Buch über Amerika und seine Mythen, über Hass und Gewalt, über Revolutionen, Katastrophen und Apokalypsen; ein Buch, das aber vor allem als Trash-Pulp-, und Sciencefiction-Literatur verstanden wurde, nicht zuletzt „weil sich die Message nur schwer auf einen Punkt bringen ließ“, wie Meißner zugibt: „ ,Starfish Rules‘ aber hat einen roten Faden, das ist nicht Burroughs-mäßig auseinandergeschnitten. Das ist richtig erzählt, auch wenn es kompliziert konstruiert ist. Es hat eine enorme Tiefenstruktur. Das klingt angeberisch, doch ich habe parallel dazu meine Magisterarbeit über Kriminalsoziologie in Amerika geschrieben, und während ich für die ein halbes Jahr gebraucht habe, hat die Arbeit an ,Starfish Rules‘ vier Jahre gedauert“. Doch damit hatte man ihn beim Verlag schon festgelegt. Nachdem sich die Medienresonanz auf „Starfish Rules“ und der Verkauf gut angelassen hatten, fragte man ihn auch gleich nach neuen Büchern. Eines davon war „HalbEngel“, das aber mit der Begründung abgelehnt wurde, kein richtiges Buch zu sein: „Keine Fantasy, keine Gewalt eben, doch zwei Jahre später ist es dann doch ein gutes, da hat nur der Lektor gewechselt“.
Meißner stimmt insofern auch ganz ohne beleidigt zu sein dem Einwand zu, dass „HalbEngel“ ein wenig unzeitgemäß wirke, weil die Blütezeit von Grunge und die Geschichte mit Kurt Cobain, an die das Buch erinnert, schon einige Jahre zurückliegen. Schließlich sei das Buch nun mal vor Jahren „unter dem Einfluss der Grunge-Bewegung“ geschrieben worden, „lange bevor Salman Rushdie da mit seinem Rock-'n'-Roll-Buch kam!“.
Trotzdem versucht er, das Bild vom „Auslaufmodell“ ein wenig zu verwischen. So glaubt er zum einen, dass man mittlerweile wieder Rockmusik statt Techno höre, „da tauchen ja jetzt so Bands wie Mogwai oder Godspeed You Black Emperor! auf, die so ganz neuartigen esoterischen Gitarrenrock machen“. Und letztendlich gehe es ihm sowieso um gänzlich anderes: „Ich will experimentell rausfinden, was Einzelne sich für eine Vorstellung von der Musik von Mercantile Base Metal Index machen, auch was Musiker sagen. Ich habe schon gehört, dass jemand meinte, er hätte nie gedacht, dass Rockmusik so eine Tiefe haben kann.“
Bei aller Bedachtsamkeit, bei aller Zurückhaltung, bei aller gut gezügelten und kanaliserten, vielleicht sogar kalkulierten Wut kann man sich während des Gesprächs mit Meißner nicht des Eindrucks erwehren, dass er ein bisschen größenwahnsinnig und literaturverrückt ist. Fast nebenbei erwähnt er, dass er sich vor seinem Studium der Publizistik und Filmwissenschaften „mit einem 2.000-Seiten-Buch“ das Schreiben beigebracht habe. Und so gar nicht zügeln kann er sich, wenn es um seine neuen, eigentlich schon fertigen Buchprojekte geht: „Zusammen mit ,HalbEngel‘ habe ich ein Buch angeboten, das noch aggressiver, unkommerzieller und hard-boilder als ,Starfish Rules‘ ist. Das wurde jetzt zweimal abgeschmettert“.
Nach dem Inhalt gefragt antwortet Meißner, dass dieser so komplex sei, das würde mindestens eine halbe Stunde in Anspruch nehmen: „Das ganze wird ein Romanzyklus, da werde ich mehrere Jahrzehnte dran arbeiten. Es geht darum, schriftstellerisch die Geschichte der kommenden 50 Jahre zu begleiten“.
Das mit dem Größenwahn kennt Meißner schon zur Genüge, vor allem die Verlage hätten ihm das immer wieder vorgehalten. Doch andererseits sagt er auch: „Das ist doch nicht gemeingefährlich. Ich will halt was riskieren, und wenn ich dann scheitere, dann ist es auch okay. Bis vierzig gebe ich mir noch, da sollte dann wirklich der ganz große Hammer kommen.“ Im Moment aber lebt er noch im Wechsel von Tantiemen auf seine beiden Bücher und gelegentlichen Fabrikjobs, da kennt er nichts. Und er hofft lediglich, dass es „wenigstens hundert Leute“ gebe, die „HalbEngel“ mögen. „Das würde mir reichen“. Und die gibt es bestimmt, mindestens, das Buch ist bisher das bestverkaufte aus dem Herbstprogramm des Rotbuch-Verlags. Noch größer aber wäre es für ihn, wenn sich ein Musiker von einem der Songs von Mercantile Base Metal Index inspirieren ließe: „Dann sag ich doch einfach: Das wars!“
„HalbEngel“, Rotbuch-Verlag, 248 Seiten, 32 DM; Meißner liest heute abend um 20 Uhr in der Galerie im Pferdestall der Kulturbrauerei
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