■ Griechenland stimmt EU-Finanzhilfe für die Türkei zu: Neue Nachbarschaft nutzen
Manchmal haben selbst Katastrophen noch ihre guten Seiten. Da hatte man sich jahrelang eingeredet, der jeweils andere sei ein ganz böser Bube, der nur auf die Gelegenheit wartet, einen selbst schwach und hilflos zu erwischen. Doch als dann die Gelegenheit dazu kommt, ist plötzlich alles ganz anders.
Das Erdbeben in der Türkei hat in Griechenland eine Woge der Solidarität und des Mitleids mit den gebeutelten Nachbarn ausgelöst. Griechische Rettungsteams waren mit als erste zur Stelle, die griechische Öffentlichkeit überbot sich mit Sympathiebekundungen. Erstmals seit Jahrzehnten gab es als Benefizveranstaltung ein Fußballspiel zwischen einem türkischen und einem griechischen Spitzenklub, aus demselben Grund finden Konzerte und andere Veranstaltungen statt. Keine Hilfe aus dem Ausland ist in der Türkei so enthusiastisch bejubelt worden wie die griechische. Türkische Taxifahrer nahmen von Griechen kein Geld und Restaurants spendierten Menüs.
Wie ein Katalysator hat das Beben einen mentalen Prozess in Gang gesetzt, der jetzt politisch genutzt werden muss. Erste Schritte dazu waren bereits vor der Katastrophe unternommen worden. Auf Drängen der Außenminister beider Länder hatten bilaterale Treffen begonnen, bei denen zunächst unproblematische Fragen erörterten wurden, um überhaupt wieder ins Gespräch zu kommen. Auf der Basis der jetzigen Klimaveränderung kann das nun sehr viel schneller gehen. Griechenland hat bei dem Außenministertreffen in Lappland einen ersten Schritt getan und Finanzhilfen in Höhe von insgesamt 1,5 Milliarden Mark zugestimmt, die die EU zum Teil bereits vor einem Jahr als Hilfe für strukturschwache Regionen an die Türkei bereitgestellt hatte. Die als Kompensation für die Zollunion seit 1995 von Griechenland blockierten 750 Millionen Mark liegen noch auf Eis, aber es gibt aus Athen positive Signale, sich auch da zu bewegen. Vielleicht schafft das neue Klima es ja sogar, eine Entspannung in den türkisch-griechischen Beziehungen auf Zypern herbeizuführen, zumindest ist die Gelegenheit schon lange nicht mehr so günstig wie jetzt.
An der EU liegt es, nun einen Rahmen für die bilateralen Gespräche der Nachbarn bereitzustellen und das Ganze in einen Prozess zu überführen, der schließlich die Türkei und Zypern nach Europa bringt. Zwar ist die Stimmung so gut wie lange nicht, eine Gewähr, dass das auch langfristig so bleibt, bietet aber letztlich nur eine gemeinsame Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Jürgen Gottschlich
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