Anarchie als Form

■ Acht Jahre nach Ronald Schernikaus Tod wird dessen tausendseitiges Nachlasswerk „legende“ veröffentlicht

Fast zehn Jahre hatte er an seinem ausufernden Roman gearbeitet. Im Oktober 1991 war das Manuskript endlich abgeschlossen, und er verschickte es – 1.000 Seiten schwer – an verschiedene Verlage in den alten wie in den neuen Bundesländern. Aus zahllosen, zum Teil sehr kurzen Textpartikeln setzt sich mosaikhaft ein ins Fantastische gleitendes Panorama zusammen; eine „wilde Mischung aus Bibel, Sage, Parabel“ und „Montage aus Erzählung, Dialogen, Zeitungsüberschriften, Parodien, Witzen, Träumen und inneren Monologen“, wie es sein Nachlassverwalter Rainer Bohn beschreibt.

„legende“ (durchgängig auf Großschreibung verzichtend) spielt im Westberlin der 80er Jahre: „mitten im tod sind wir vom leben umfangen, nicht wahr, mitten auf der insel sind wir vom land umgeben, mitten in der zukunft die vergangenheit.“

Vier für die Menschen unsichtbare Götter – die Terroristin Ulrike Meinhoff, die Schauspielerin Therese Giehse, der Kommunist Max Reimann und der Schriftsteller Klaus Mann – kommen zu den Menschen, um ihnen das Glück zu bringen. Und Marianne Rosenberg zieht in ein besetztes Haus. Schernikaus Prosa ist ein stetes Stakkato von Kürzestsätzen.

Um der Widersprüchlichkeit der gesellschaftlichen Situation aber auch des eigenen sich überschlagenden Denkens Herr zu werden, flüchtet sich Schernikau in ein sprunghaftes Schreiben. Selbstreflexionen unterbrechen die Handlung, Momentaufnahmen schieben sich zwischen Monologe. Was auf den ersten Blick wie ein heilloses Chaos, wie ein wirrer Zettelkasten wirkt, ist letztlich purer Anarchismus als Form.

Sein Manuskript traf zwar auf Interesse, aber drucken wollte es niemand. Die Zeiten waren die denkbar ungünstigsten für einen solchen Roman. Als wenige Wochen danach die ersten Absagen eintrafen, war Schernikau bereits tot. Mit 31 Jahren verstarb er in Berlin an den Folgen von Aids.

Schernikau hatte bis dahin recht wenig publiziert. Mit 18 Jahren bereits veröffentlichte er im Rotbuch Verlag seine viel beachtete „kleinstadtnovelle“ über ein schwules Comingout in der Provinz. 1987 wurde sein Theaterstück „Die Schönheit“ über Waffenhandel, Spionage und den Widerstreit von Marxismus und Leninismus uraufgeführt – vom Berliner Tuntenensemble „Ladies Neid“. Weit mehr Furore machte Schernikau allerdings, als ihm nach jahrelangen Bemühungen am 1. September 1989 offiziell die DDR-Staatsbürgerschaft anerkannt wurde. Der Junge, der 1966 im Kofferraum eines Diplomatenautos in den Westen geholt worden war, ging als erwachsener Mann und aufrechter Sozialist zurück in jenes Land, an das er glaubte.

Dass kaum einen Monat später dieser Staat und seine Idee zerbrechen würden, konnte er nicht ahnen. „Meine Damen und Herren, Sie wissen noch nichts von dem Maß an Unterwerfung, das der Westen jedem einzelnen seiner Bewohner abverlangt“, warnt er beim letzten DDR-Schriftstellerkongress im März 1990 vor dem kapitalistischen Westdeutschland.

„Am 9. November hat in Deutschland die Konterrevolution gesiegt. Ich glaube nicht, dass man ohne diese Erkenntnis in der Zukunft wird Bücher schreiben können.“ Dafür wurde er von der Mehrheit im Saal ausgebuht.

Schernikau war allerdings alles andere als ein linientreuer Kommunist. Seine Erfahrungen in den drei Jahren als Weststipendiat am Johannes-R. Becher-Institut für Literatur in Leipzig wünschte er sich von einem DDR-Verlag gedruckt. Doch Schernikau saß auch hier schon zwischen den Stühlen. Anfang 1989 galt sein Text noch zu staatskritisch, nach der Wende hingegen zu DDR-freundlich. Veröffentlicht wurden seine essayistischen Aufzeichnungen „tage in l.“ schließlich im Westen: in Gremlizas konkret-Verlag.

Nach vielfachen Anläufen soll dieses große Märchen nun doch noch veröffentlicht werden. Der kleine Verlag ddp goldenbogen, ansonsten spezialisiert auf Regionalia, will es wagen und kann das finanzielle Risiko dennoch nicht ganz tragen. 500 nummerierte Exklusivausgaben (zum Preis von 135 Mark) müssen vorab bestellt sein, bis die Druckmaschine angeworfen wird und dann auch die Normalausgaben (zu 68 Mark) in den Handel kommen können.

Das Unternehmen scheint zu gelingen: Nur noch rund 100 Subskribenten müssen gefunden haben. Und die finden sich dann in einer illustren Runde: zwischen Peter Hacks, Matthias Frings, Sarah Wagenknecht, Dietrich Kittner, Siegfried Matthus und Elfriede Jelinek.

Letztere hält Schernikau für „keck“, wo Rainald Goetz nur „lustig“ sei. „Sie verlangen beide etwas, ja, haben aber auch beide was zu bieten“, schreibt sie im Subskriptionsprospekt. „Der eine dröhnt, der andre will, dass es dröhnen soll, dafür haut er schließlich die ganze Zeit auf die Pauke. Dann dreht er sich um, und niemand folgt ihm, während der Goetz schon längst in der Menge verschwunden ist.“

Axel Schock

Verlag ddp goldenbogen, Weiße Gasse 6, 01069 Dresden