Unglaubwürdige Wahrhaftigkeit

■ Revolution und Romanze: Der Postmann mit Philippe Noiret schreibt Neorealismo chilenisch

Dies ist, um es gleich vorwegzunehmen, ein hoffnungslos romantischer Film. Und ein stiller, obwohl die Dichtung sein eigentlicher Hauptdarsteller ist. „Da nahte auf der Suche nach mir die Poesie“, heißt es in einem Gedicht, das im Abspann läuft. Ähnlich wie in jenem Vers von Pablo Neruda findet auch der Fischersohn Mario über die Worte zu sich und umgekehrt.

Es sind die Worte von Pablo Neruda, der auf einer kleinen süditalienischen Insel die frühen 50er Jahre im Exil verbringt. Mario trägt dem chilenischen Dichter in sein abseits gelegenes Landhaus die Post aus. Mit dem Drahtesel. Es sind Berge von Post, überwiegend von Frauen, denn der Kommunist gilt nicht nur als Dichter des Volkes, sondern auch als Dichter der Frauen. Als sich Mario verliebt, leiht er sich die Worte des erfahrenen Dichterfürsten und steckt der bisher nur stumm angehimmelten Beatrice ein Liebescouvert mit flammenden Worten zu.

Nicht nur wegen Philippe Noiret, der Neruda recht ambivalent fern jeder unnahbaren Dichteraura interpretiert, gerät Der Postmann zu einem nostalgischen Gesang auf ein darniederliegendes Genre der Poesie. Der Filmvorführer aus Cinema Paradiso wechselt das Thema, nicht aber den Ton. Poesia Paradiso. Der Dichter weist den Postboten in die Funktionsweise der Sprache und die Metapher ein, bis der Postmann unversehens selbst den Klang des Meeres metaphorisiert. Er hält ihn an, sich ernst zu nehmen, wahrzunehmen und schenkt ihm gar eine edle Kladde für die ersten Versversuche. Bisweilen dichten sie sogar zusammen. Als Neruda den Postboten zwischen Tür und Angel nach einem Adjektiv zu „Netzen“ fragt, schlägt der Fischerssohn „traurig“ vor, und Neruda schreibt die tristes redes – eine Wendung, die zu einer philologischen Debatte führte. Ein Treppenwitz der Literaturgeschichte.

Dieser filmische Bildungsroman, im Verlauf dessen Mario zu Bewußtsein kommt, findet vor dem Hintergrund von Nachkriegs-Italien statt, wohin der britische Regisseur Michael Radford (1984) das Drehbuch des chilenischen Autors Antonio Skarmeta verlegt hat. Doch sein Italien ist das Italien des Neorealismo, in dessen Hochphase Der Postmann zeitlich angesiedelt wurde. Der klapprige Drahtesel, seit Fahrraddiebe zum neorealistischen Zeichen avanciert, und seine einfache Technik samt Laiendarstellern und marxistischer Haltung verweisen direkt auf Filmemacher wie Roberto Rossellini. Es ist die Filmgeschichte, die hier Geschichte schreibt.

Für das besondere Ereignis in dieser tristen Welt aus Arbeitslosigkeit und ausgekratzten Tellern sorgt der dichtende Südamerikaner und bündelt gleichzeitig Politik und Liebe, Revolution und Romanze. Was wie eine Verlegung der Schauplätze aufgrund der Herzkrankheit des sichtlich geschwächten Massimo Troisis aussieht, gerät zum Programm für einen linken englischen Filmemacher. Es sind Worte und Liebe, oder die gewortete Liebe, die der Armut ein menschliches Antlitz verleihen kann. Das klingt so utopisch und zuckergussig, wie es ist. Doch Der Postmann kommt so nahe heran an das, was Kleist unter „unglaubwürdiger Wahrhaftigkeit“ verstanden haben könnte, daß man es ihm ohne Zögern abnimmt.

Volker Marquardt