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Einblicke ins Paradies

Er hat sie jahrelang begleitet und sie auch abseits ihrer Auftritte abgelichtet – die Stars des Jazz der 50er Jahre wie Chet Baker, Gerry Mulligan oder Sonny Rollins. Jetzt ist ein Bildband mit den Arbeiten des Fotografen William Claxton erschienen: „Jazz seen“. Ein Essay von Georg Gruber

Vorne auf der winzigen Bühne stehen Chet Baker und Gerry Mulligan, der kleine Club ist überfüllt, das Publikum lauscht fast andächtig. Der 22-jährige Trompeter Baker war erst kurz vorher zu dem pianolosen Quartett des Baritonsaxofonisten gestoßen. An diesem Montagabend im Herbst 1952 ist auch der Fotograf William Claxton unter den Zuhörern, um Bilder von der Gruppe zu machen. Während des Auftritts spricht ihn ein junger Mann an, stellt sich als Richard Book vor und erklärt, er sei hier, um die Musik der Band aufzunehmen. Er bittet um Fotos, die er für das Plattencover verwenden wolle. Claxton fragt ihn, ob er eine Plattenfirma habe. „Nein, noch nicht, aber ab morgen früh!“ Die Geburtsstunde der Pacific Jazz Records.

William Claxton wird der Fotograf und Art Director der Plattenfirma. Er schafft die Bilder zum neuen Sound, der in Californien entsteht: Westcoast-Jazz. Leichte, geschickt arrangierte, gefällige Musik. Claxton bricht mit seinen Aufnahmen für das neue Label mit den damals gängigen Jazzstereotypen, geht weg von den Bilder von verschwitzten Musikern in verrauchten Clubs. „Bei uns in Kalifornien gab es Sonnenschein, Strände, Cabriolets, Hügelkuppen, tolles Wetter, und jeder tat etwas für seine Gesundheit. Sogar die Drogensüchtigen achteten auf gesunde Ernährung“, erzählt Claxton in seinem Buch „Jazz seen“. „Daher fotografierte ich Sonny Rollins mit einem Cowboyhut mitten in der Mojavewüste; Shorty Rogers hoch droben im Baumhaus seines Sohnes; das Ramsey Lewis Trio inmitten des tosenden Verkehrs der Michigan Avenue in Chicago; Chet Baker and His Crew auf einem Segelboot in der Bucht von Santa Monica.“ Die Musiker werden dabei nicht vorgeführt, nicht zu Posen verführt. Die Aufnahmen von William Claxton folgen einer eigenen Ästhetik, sind intim und klar. „Das eigentlich Faszinierende ist ihr Gesichtsausdruck, wenn sie nicht spielen, in anderen Lebenssituationen, wenn sie üben, proben, rauchen, herumstehen und reden, sogar wenn sie essen oder Drogen nehmen. Ich höre ihnen sozusagen mit meinen Augen zu.“

Chet Baker steht 1952 – jung, schön, unverbraucht – noch am Anfang seiner Karriere. Er könnte der Bruder von James Dean sein. Claxton, nur zwei Jahre älter als der Trompeter, begleitet ihn mit der Kamera. Enge Freunde werden sie nicht, und trotzdem wirken gerade diese Bilder wie unbeobachtete Ausschnitte, öffnen Fenster in die 50er Jahre, in eine andere Zeit: Chet Baker liegt auf dem Rücken, schaut nach oben, die rechte Hand unter dem Kopf. Mit der anderen Hand hält er seine Trompete, die Finger entspannt. In dem Bild liegt etwas von der Verletzlichkeit und der Trauer, die viele Stücke Bakers transportieren.

1953 und 1954 wird er von den Fachzeitschrifen Down Beat und Metronome zum besten Nachwuchsmusiker und zum besten Trompeter des Jahres gewählt – obwohl er technisch hinter schwarzen Musikern wie Dizzy Gillespie, Miles Davis oder Clifford Brown zurückbleibt. 1954 ist sein erstes Gesangsalbum fertig. Er singt, wie er spielt: zurückhaltend, sensibel. Baker wird zur Ikone, die nicht nur von Frauen verehrt wird, eine, die Claxton durch seine Fotos mit geschaffen hat.

Kalifornien war immer eine Grenzregion des Jazz gewesen. Der Westcoast-Stil – entspannte, gefällige Melodielinien, frisch und sanft – schaffte nie den großen Durchbruch. Die meisten schwarzen Musiker der Ostküste in New York wollten sich der neuen kalifornischen Ästhetik nicht anschließen. Als sich Chet Baker 1959 entschloss, nach Europa zu gehen, hatte sich der Schwerpunkt der Jazzszene schon wieder nach New York verlagert. Westcoast war langweilig geworden. Klangliche Kostbarkeiten, aber zu formalistisch und überstilisiert.

In den Gruppen um die Schlagzeuger Max Roach und Art Blakey wird Hardbop gespielt: härter, schneller, lebendiger, treibender als der weiße Sound der Westküste. Die Musiker wandern von Kalifornien nach New York – oder in die Filmstudios Hollywoods. Besonders linke Musik- und Gesellschaftskritiker blicken auf die Westcoast-Episode herab. Ihr klassischer Ausverkaufsvorwurf: Die schwarze Musik sei domestiziert und für weiße Ohren aufbereitet worden. Hardbop habe mehr Seele und sei echter.

Mitte der 50er Jahre begannen Schwarze gleiche Rechte und das Ende der Rassentrennung zu fordern. Auch der Jazz wurde politischer und radikaler. Aus dem Aufbegehren gegen die Unterdrückung und aus der Suche nach der eigenen Identität als Minderheit in den USA entstanden neue Ausdrucksformen. Afrika wurde zum Mythos – womit auch die Bezeichnug „Jazz“ auf den Prüfstand gestellt wurde. Es wurde als ein Wort der Weißen abgelehnt, als Erinnerung an Zeiten, als es viele „Onkel Toms“ gab, die bereit waren, Musik vor allem für Weiße zu spielen. Avantgarde, Free Music, Black Music – so nannten die neuen jungen Wilden ihre Musik. Unter ihnen die Saxofonisten Archie Shepp, Ornette Coleman, Albert Ayler. Verkäuflich waren die Musiker abseits des Mainstream nicht.

In dem Bildband „Jazz seen“ sind nur die Anfänge dieses musikalischen Umbruchs dokumentiert, die gesellschaftlichen Spannungen lassen sich nur erahnen. Mit fast jeder Veränderung und Weiterentwicklung wurde der Jazz für tot erklärt. Schon der Bebop der 40er Jahre war für die Puristen das Ende, die im Swing den Höhepunkt der Entwicklung sahen. Mit den Experimenten, die Musiker wie Dizzy Gillespie, Charlie Parker, Thelonious Monk versuchten, begann jedoch nur eine neue Phase. Eine der Suche nach anderen Ausdrucksformen, nach Freiheit im musikalischen und auch im politischen Sinn. Eine Phase, die im Free Jazz kulminierte und in der Öffnung zum Rock im Ausgang der 60er Jahre endete.

Der Free Jazz sollte der Schritt zur Befreiung sein und alles möglich machen. Seitdem herrscht Beliebigkeit in der Sackgasse. Denn Jazz lebt auch von der Spannung zwischen Selbstverwirklichung und Gefallsucht. Und davon, dass im Hören der Musik Erfahrungen, Vorstellungen, Ideen und Gefühle miterlebbar sind. Nur am Anfang klangen der Aufbruch, die Suche und das Abtasten der Grenzen befreiend. Kollektivimprovisationen ermüden.

Schon in den 60ern versuchten Musiker wie Horace Silver, Grant Green, Lou Donaldsen oder Wes Montgomery den Anschluss an die Massen wiederzufinden – oder sie wurden von ihren Plattenfirmen in Richtung Pop gedrängt. Auch die Fusion von Jazz und Rock zu Beginn der 70er Jahre war letztlich zu sehr von der Suche nach kommerzieller Anerkennung getragen. Manches dabei war funky und sexy – aber nur noch Weniges wahrhaftig.

William Claxtons Jazzbilder aus den 50er und 60er Jahren kommen einem heute vor wie Blicke ins Paradies. Konzertaufnahmen, Szenen aus den Plattenstudios, gestellte Gruppen, Marschbands in New Orleans. Blicke auf die vertrauten Großen des Jazz. Von Clifford Brown, der 25-jährig 1956 durch einen Autounfall starb, über Max Roach, in dessen Quintett er spielte, bis hin zu John Coltrane, dem prophetischen Saxofonisten, der immer auf der Suche war und von allen Gott wohl am nächsten kam.

„Jazz seen“ ist der bislang umfangreichste Fotoband von William Claxton. Durch die Masse an Bildern und die Vermengung der Zeiten verliert die Sammlung allerdings etwas den Fokus. Bilder aus den 50er Jahren stehen neben Aufnahmen aus diesem Jahrzehnt. Die Konzeption scheint wenig durchdacht, die Bildfolge bestenfalls assoziativ. Ein Beispiel: Der Trompeter Wynton Marsalis, der sich heute als Gralshüter des „wahren Jazz“ versteht, taugt nicht als Projektionsfläche zur Heldenverehrung und stört die Zeitreise. Trotzdem sind die meisten Fotos großartig. Der Fotoband „jazz“, vor drei Jahren erschienen, ist nur ein Drittel so dick, harmoniert dafür in der Auswahl, die Zeitreise klappt ohne Irritationen. Ein dritter Claxton-Band widmet sich nur einem Musiker, Young Chet Baker, mit Aufnahmen aus den Jahren 1952 bis 1957.

In den letzten Fotos aus der Zeit in Kalifornien 1957 lassen sich schon Zeichen von Chet Bakers Drogenabhängigkeit erkennen, eine Sucht, die ihn bis zu seinem Tod nicht mehr loslassen wird. Seine Karriere wird nach dem Flug nach oben immer wieder abbrechen: Drogen, Gefängnis. 1959 geht er nach Italien und Deutschland, aber auch dort kann er nur Konzerte geben, wenn er mal keinen Ärger mit der Polizei hat. 1964 wird er in Berlin festgenommen und ausgewiesen. Nach seiner Rückkehr in die USA werden ihm 1968 bei einer Prügelei die Zähne eingeschlagen; Dizzy Gillespie finanziert ihm neue. Die Drogenprobleme bleiben.

Auch in den 70er und 80er Jahren behält er seinen lyrisch-leichten Ton. Eine hagere, eingefallene Figur, früh vergreist. Sein Standardrepertoire hat Baker nur sehr wenig erweitert. „My funny Valentine“ gibt es sicher in einem Dutzend Versionen, alle sind anders. „Für ihn war jedes Stück wie ein lebendiges Wesen, mit dem er immer wieder aufs Neue Bekanntschaft schloss, und dessen Gesicht, ob lächelnd oder weinend, er jedesmal neu entdeckte“, erinnert sich der Pianist Enrico Pieranunzi nach dem Tod des Trompeters.

Am 13. Mai 1988 stürzte Chet Baker, anderthalb Jahre vor seinem 60. Geburtstag, in Amsterdam aus dem Fenster seines Hotelzimmers. Die genauen Umstände seines Todes sind ungeklärt geblieben. Im kommenden Dezember wäre er siebzig geworden, so alt, wie er schon vor sehr vielen Jahren aussah.

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