Ein bisschen wie Lottospielen

Immer mehr Menschen qualifizieren sich endlos weiter. Doch das ist noch keine Garantie für eine schwungvolle Karriere. Viele können ihre Qualifikationen auf dem Arbeitsmarkt gar nicht verwerten    ■ Von Jeannette Goddar

Wer mag oder meint zu müssen, kann sich ein Leben lang damit beschäftigen: 13 Jahre Schule, eine anständige Lehre, 5 Jahre an der Universität, gefolgt von einem 2-jährigen Aufbaustudium, endlosen Fortbildungskursen und Wochenendseminaren. Längst hat man sich gewöhnt, Lernen zum Alltag zu machen. Um den Lernbedarf der Erwachsenenwelt zu befriedigen, hat sich ein riesiger privater Markt entwickelt. Doch Qualifikation an sich ist noch lange keine Garantie für einen Berufsweg mit guten Aussichten.

Kritiker, wie der Berliner Arbeitsmarktforscher Felix Büchel, stellen den Nutzen einer nicht enden wollenden Qualifizierung in Frage gestellt. Aus mehreren Gründen: Zwar hat es das massenhafte akademische Proletariat, das Experten nach der Bildungsreform in den Siebzigern auf Deutschland zukommen sahen, nie gegeben. Dennoch ist unübersehbar, dass viele auf Stellen sitzen, für die sie überqualifiziert sind. Nach Erkenntnissen Büchels, der am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in Berlin arbeitet, waren 1995 in Westdeutschland 15,9 Prozent der Arbeitnehmer „unterwertig beschäftigt“, im Osten 26,3 Prozent – mit steigender Tendenz. Charakteristisch für unterwertige Beschäftigung sind laut Büchel vor allem: ungünstige Entlohnung, unregelmäßige Arbeitszeiten, wenig abwechslungsreiche Tätigkeiten, geringe Arbeitszufriedenheit. Vorrangig betroffen von „ausbildungsinadäquater Beschäftigung“ sind demnach Frauen, besonders Akademikerinnen. Laut Büchel macht jede vierte Frau einen Job, für den sie nicht hätte studieren müssen, etwa die Hälfte sei „auf Arbeitsplätzen mit Minimalanforderungen“ tätig. Die besten Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben erwartungsgemäß allein stehende Männer in großen Städten.

Auch das Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) kommt in einer Studie zu dem Schluss, dass Frauen doppelt so häufig unterwertig arbeiten wie Männer. Gründe dafür, so IAB, seien auch „selektive Rekrutierungsstrategien, häufigere Berufsunterbrechungen und Teilzeitarbeit“. Allerdings, so die Soziologin Franziska Schreyer vom IAB, sei es schwierig, Überqualifikation zu messen: „Was heißt denn inadäquat? Je nachdem ob Sie den Status betrachten oder die inhaltliche Arbeit oder die persönliche Einschätzung, kommen Sie möglicherweise zu völlig verschiedenen Ergebnissen.“

Auch Harald Schomburg von der Uni Kassel, der in einer Untersuchung dreier Berufsgruppen (Maschinenbauer, Sozialpädagogen, Wirtschaftswissenschaftler) kaum auf Überqualifizierte stieß, verweist auf die Schwierigkeit der Definition: „Ist nicht jeder von uns zugleich über- und unterqualifiziert?“, fragt Schomburg. Gerade die deutschen Universitäten bildeten in der Regel nicht unmittelbar für ein bestimmtes Berufsbild aus. Anders verhalte es sich bei Facharbeitern: „Dort ist die Lage viel dramatischer.“

Tatsächlich finden jedes Jahr bundesweit etwa 80.000 junge Facharbeiter keine einschlägige Stelle. Letztlich entscheidend scheint die subjektive Zufriedenheit der Arbeitnehmer. „Wichtig ist doch, dass die Leute eine Affinität zu ihrer Tätigkeit haben“, sagt Schomburg. Da empirisches Material zu der Frage nicht vorliegt, können auch Arbeitspsychologen auf die Frage nach den Auswirkungen von Überqualifikation nur generelle Antworten geben. „Im Zweifel wird das Gefühl der Unterforderung zum Problem“, sagt Bernhard Wilpert, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Technischen Universität Berlin, „das kann zu extremer Frustration führen.“ Manche Menschen seien imstande, dieses Gefühl durch andere Erfolgserlebnisse in der Freizeit zu kompensieren – bei anderen würde es zum regelrechten Stressfaktor. Auch könnten nicht angewandte Kompetenzen mit der Zeit irreparabel verkümmern – und es mit der Zeit immer unwahrscheinlicher werden, eines Tages doch noch einen adäquaten Job zu ergattern.

Andererseits stellt sich so manchem angesichts der Situation auf dem Arbeitsmarkt auch die Frage, inwieweit der Einzelne sich dem Diktat des lebenslangen Lernens unterwerfen soll. „Wer heute Widerstand leisten will, muss Lernen verweigern“, fordert ketzerisch Karlheinz Geißler, Professor an der Universität der Bundeswehr in München und Autor eines Buches namens „Der große Zwang zur kleinen Freiheit“. Selbstverständlich bringe der Wandel der Zeit die Notwendigkeit der Weiterbildung mit sich, argumentiert Geißler – andererseits sei Lernen als Solches in dieser Gesellschaft zum Zwang geworden. Geißler rät jedem Einzelnen, mit den Möglichkeiten der Weiterbildung und Berufswahl realistisch umzugehen und sich von dem ständigen Druck der Qualifizierung zu befreien: „Karrieremachen ist eben ein bißchen wie Lottospielen. Es spielen ganz viele Lotto – und nur wenige gewinnen.“