Ein Spiele-Abend im Knast

■ Tagebuch über 13 Tage in der JVA: Der in Achim inhaftierte Anti-Atom-Aktivist Gerald Neubauer gibt in der taz Einblicke in seinen Knast-Alltag

Genau 13 Tage saß Gerald Neubauer wegen zivilen Ungehorsams in der Achimer Justizvollzugsanstalt. Der 24jährige hatte 1996 am AKW Grundremmingen fünf Schottersteine aus dem Gleisbett beiseite geräumt – und war für diese symbolische Schienendemontage zu einer Geldstrafe von 40 Tagessätzen á 20 Mark verurteilt worden. Doch das Geld hatte er nicht gezahlt – und musste deshalb für 39 Tage in den Knast. Nach 13 Tagen kaufte ihn jetzt die grüne Europaabgeordnete Ilka Schröder frei. Die taz veröffentlicht in loser Folge Gerald Neubauers Erlebnisse im Knast.

Freitag, 27.8.99

Da ich gut und lange ausgeschlafen habe, geht es mir den ganzen Tag sehr gut. Den ganzen Vormittag lese ich in der „Einführung in das Kapital“, um mit meiner Hausarbeit weiter zu kommen. Ich bin allein in der Zelle, und die Ruhe tut gut. Nichts ist anstrengender als ständige Gespräche, Fernseher etc. Mittags kriege ich eine Riesenkiste Gemüse, Obst und anderes von dem Hof, wo ich früher wohnte, dazu sechs Briefe (davon drei mit Blockade-Absichtserklärung) und jede Menge Zeitungsartikel. Was meine Unterstützungsgruppe bei der Presse-Auslese übersehen hat, mir aber ein Mithäftling zeigt: Sogar die Bild-Zeitung hat einen relativ guten Artikel mit Bild! Am Nachmittag erzählt mir jemand eine Vielzahl besonderer Tricks, wie ich Drogen von Haschisch bis zu Heroin so einnehme und kombiniere, dass sie möglichst gut kicken. Nur, dass ich das gar nicht will. Später habe ich mit jemand ein langes, tiefes und auch konfrontatives Gespräch über die Unterhaltszahlungen für seinen Sohn, die er nicht zahlt, weil ihm seine Ex-Freundin den Kontakt zum Sohn verweigert. Er sitzt hier ein ganzes Jahr, geht lieber in den Knast, als zu zahlen, ohne den Sohn sehen zu dürfen.

Ich kenne den Hintergrund nicht, bin aber sehr kritisch und stelle viele bohrende Fragen. Und auch wenn er oft recht ablehnend zu meinen Gedanken über seine Beziehung war, erfuhr ich, dass ich erst die dritte Person bin, die seine Geschichte in dieser Ausführlichkeit hörte. Er hat sein Herz ausgeschüttet, und das hätten hier viele nötig. Doch es fehlt an Zuhörern. Viele haben ein völlig gestörtes Redeverhalten, können nicht zuhören, unterbrechen ständig und reden nur von sich, allerdings wenig Persönliches. Es fällt mir oft schwer, zu Wort zu kommen. So entstehen ganz wenig hilfreiche Gespräche, sondern viel Gelaber, obwohl es so nötig wäre, all die bewegten Schicksale, eingeschlossenen Gefühle, den Frust, die Angst, die Aggression hinauszuschreien, anstatt sie mit Drogen zu betäuben oder in Gewalt umschlagen zu lassen.

Das Gespräch heute hat mich bewegt und überrascht. Es ist gut, so viel von jemandem mitzukriegen und zu klären, dass es ihm gut tat, über all das zu reden. Solche Momente sind Lichtblicke, ein Aufstehen gegen die Passivität und Lethargie, die sich hier so schnell breit macht.

Heute war eine Stunde Ausgang, wie jeden Tag. Bisher habe ich den immer verpasst. Von 28 Männern, die hier sitzen, bleiben 23 in ihren dunklen Zellen, einer joggt durch den kleinen Hof seine Runden, die anderen schlurfen den Weg entlang. Ich übe Handstand, schaue in den Himmel und esse Beeren von der gestutzten Eibe. Mit dem Jogger rede ich über soziale Ungerechtigkeiten. Er findet Sozialhilfebezug „in vielen Fällen“ ungerechtfertigt, ich die arbeitslosen Einkommen der Kapitalbesitzer, die von Zinsen, Dividenden oder Miete leben. Später gehe ich mit ihm in den Kraftraum, denn allein darf er keine Hanteln stemmen und heute will niemand anders mitgehen. Weil ich noch keinen Sport machen darf (weil ich noch nicht ärztlich untersucht bin), schreibe ich Briefe. Er liest den Brief einer 76-jährigen AKW-Gegnerin, der mich heute erreichte, und zeigt sich im folgenden Gespräch über Castor-Widerstand sehr offen. Ich erfahre immer mehr Respekt vor meiner Aktion und immer mehr Interesse an Atompolitik. Wobei die Anerkennung unter Umständen so ausgedrückt wird: „Ja, ziviler Ungehorsam, das bräuchte es mehr. Dann wären sie gefickt, die Fotzen.“

Der Umgangston ist rauh und durchsetzt von frauenfeindlichen Sprüchen, auch bei den intelligenteren und progressiveren Leuten. Die vielen Sprüche und sexualisierten Anspielungen sind nervig, allgegenwärtig. Doch ich habe auch nichts anderes erwartet in einem Männer-Knast.

Nachtrag zum Brief am 26.8.

Heute abend haben wir „Spiel des Wissens“ gespielt und es entstand eine lustige, gelöste Stimmung, dass ich mich gefühlt habe, wie bei einem Spieleabend Zuhause. Anfangs habe ich mich ziemlich überlegen gefühlt und bin mit meiner Figur den anderen davon gerannt. Habe Fragen beantwortet, wo die anderen den Kopf schüttelten und innerlich den Kopf geschüttelt, als ein Zellengenosse die leichteste Frage nicht wusste. Als Studierender bin ich hier ein schräger Vogel, wobei niemand tauschen will und die anderen mit ihrem Wissensstand ganz zufrieden waren. Am Ende habe ich doch nicht gewonnen, weil die letzten Fragen alle Sport betrafen ...

Samstag, 27.8.99

Ein sehr aktiver Tag. Heute nachmittag habe ich mich mit jemand für zwei Stunden bei strahlendem Sonnenschein in den Hof sperren lassen. Wir sind eine halbe Stunde gejoggt, eine Strecke von 4x10 Metern im Carré. Immer je fünf Minuten in eine Richtung, ein bisschen wie Hamster im Laufrad. Danach hat er Gymnastik und ich Yoga-Übungen gemacht, die letzte halbe Stunde haben wir jongliert. Die frische Luft, die Sonne, die Bewegung macht gute Laune und ein ganz anderes Körpergefühl als das ständige Sitzen auf Stühlen und Liegen im Bett. Dieser ungewöhnlich liberale Vollzug in Achim lässt einige Möglichkeiten, das Knastleben aktiv zu gestalten und sich gegen die Lethargie zu wehren. Die ständige Bewegungsfreiheit im Gebäude, der grüne Innenhof mit seinen flexiblen Ausgangszeiten, das immer zu benutzende Telefon, die Möglichkeit, am Arbeitsplatz draußen weiter zu arbeiten.

Dass hier ein völlig anderer Wind weht als in Knästen wie Meppen, Celle oder Untersuchungsknästen wie in Verden, wird mir ständig erzählt. Die Verhältnisse dort sind um einiges repressiver. Doch die Möglichkeiten werden kaum genutzt. Von 28 Männern waren heute vier draußen, nur wenige gehen auf den Dachboden zum Sport. Die vorherrschende Tätigkeit (außer der Arbeit) ist Fernsehen, Rauchen und Kaffee trinken, abhängen. Das schlimmste im Knast ist die Lethargie. Sie wird von vielen schon von draußen mitgebracht und durch das Eingesperrtsein natürlich verstärkt.

Dienstag, 31.8.

Ich langweile mich. Vorgestern und gestern war ich völlig im Bann von Isabel Allende, ihrem wundervollen Roman „Paula“, in dem sie das Koma und den Tod ihrer Tochter beschreibt und Geschichten ihrer Familie in Chile und Venezuela, in denen sich Realität und Fiktion in wunderschöner Weise ineinander schieben. Ich lese Romane immer im Rausch in kurzer Zeit durch, in der ich mich in der Geschichte verliere und nichts anderes tun und denken will. Jetzt ist der Roman vorbei und die Leere nimmt mich ein. Langeweile. Ich bin genervt von dem Niveau hier, verschiedene Versuche, mal wieder einen Spieleabend anzuregen, sind am Fernsehen gescheitert. Die Gespräche sind immer die Gleichen: Drogen, Fernsehen, Sport ...

Heute hat sich ein Zellennachbar als türkischer Faschist zu erkennen gegeben. Wir diskutieren über Kurdistan, ich erzählte von meinen türkischen Freunden, die den Kriegsdienst verweigern und deswegen zum Teil lange im Knast sind. Doch die Diskussion blieb ohne Emotionen, meine Ansichten waren ihm eher egal, als dass sie ihn aufregten. Ich bin lustlos, finde es seltsam, gerade eher aus einem Muss-Gefühl zu schreiben, weil die taz uns das Tagebuch-Angebot gemacht hat. Ich kann kein Tagebuch auf Kommando schreiben und wenn ich richtig Tagebuch schreibe, dann ist es nicht für die Öffentlichkeit. Also höre ich lieber auf.

... kein Tagebuch – ein Versuch, meine Position zum Knast zu klären ...

Eine Institution, die die Lethargie in Menschen verstärkt, kann keinen positiven Einfluss auf die Insassen haben. Die Tendenzen, das Leben verantwortungsbewusst in die eigenen Hände zu nehmen, die Tat (falls sie verwerflich war, was nicht bei allen der Fall ist) kritisch zu betrachten, werden so geschwächt. Doch auch wenn der Knast Eigenverantwortlichkeit und Aktivität behindert, liegt es in der Hand der Insassen, sich der Lethargie hinzugeben oder dagegen aufzustehen. Ich freue mich über jeden kleinen oder größeren Lichtblick, wenn Menschen hier aktiv an sich und ihren Lebensverhältnissen arbeiten. Durch Sport, durch Arbeit draußen, durch intensive Gespräche, durch Duzen und schönes Einrichten der Zelle, durch Lesen von Büchern und Zeitungen oberhalb des Bild-Niveaus.

Fortsetzung folgt