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Ein Volk im Vollkomfort

Heimat als Schrankwand: Unter dem Titel „Es geht seinen Gang“ ist im Stadtgeschichtlichen Museum von Leipzig eine Ausstellung zu sehen, die ästhetisch wie politisch Einblicke in die zehn Jahre bis zur Wende gibt  ■   Von Jan Feddersen

Als vor sechs Jahren Horst Königstein die tragische Geschichte Ibrahim Böhmes verfilmen wollte, die Biografie des ersten SDP-Vorsitzenden der DDR während der Wende, machte er sich ins hinterste Thüringen auf, nach Greiz. Dort lebten Ende der Sechzigerjahre junge oppositionelle Menschen wie Jürgen Fuchs, Arnold Vaatz oder eben Böhme, dessen intensiv plauderwillige Spitzelei für die Staatssicherheit ihm jede Karriere im Deutschland der Nachwende verwehren sollte.

Dem NDR-Regisseur war es in diesem Film auch darum gegangen, die Arbeiter-und-Bauern-Republik in ihrer Freakhaftigkeit abzubilden. Nach längeren Recherchen stellte sich nämlich heraus, dass selbst im letzten Winkel des Landes westliche Moden gepflegt wurden – also Kleider im hippieesk-existenzialistischen Prilblumenstil, weit, sehr weit ausgestellte Hosenschläge, lange Haare, zu Frisuren gebündelt, die eher an Marsha Hunt als an Warschauer Pakt erinnerten. Der Witz war nur, dass die Requisiteurinnen Monate brauchten, wofür sie sonst nur Tage benötigen. So lange dauerte es, ehe sie die originalen Textilien und Accessoires beisammen hatten. Die Bewohner von Greiz, gebeten, ihre Kleiderschränke zu öffnen, erzählten ihnen immer wieder den gleichen Satz: „Das haben wir gerade weggeworfen“ – als ob sie solche peinlichen Dinge nicht weiter aufbewahren wollten, weil zu DDR-lastig.

Vor einem ähnlichen Problem standen und stehen fast alle Museen, wenn sie die Ästhetik dieses getilgten Staates heute vorzeigen wollen. Die DDR und ihre Geschichte haben offenbar nichts als ein mieses Image: Selbst zum Aufbewahren, gemessen an den schicken Styles des Westens, zu peinlich, zu schrecklich und zu minder. Die Verantwortlichen des Stadtgeschichten Museums in Leipzig wollten wenigstens probieren zusammenzusuchen, was bis vor zehn Jahren noch überall frag- und klaglos zu finden war: Einrichtungsgegenstände aus der DDR. Sie sollten die zehn Jahre bis zum Wendeherbst 1989 sinnlich unterfüttern. „Es geht seinen Gang“ heißt die Ausstellung jetzt, der Titel ist einem Roman von Erich Loest entlehnt.

Der Schriftsteller war es auch, der bei der Eröffnung der Schau mit einer launigen Bemerkung für ein kleines Zeichen von unbitterer Heiterkeit sorgte: „Das hieß doch Buntfernsehen, Buntfernsehen, nicht Farbfernsehen.“ Das war, nachdem Christoph Kaufmann, Projektleiter der Ausstellung, in seiner Eröffnungsrede davon erzählte, wie er um Hilfe bei der Suche nach einem Originalfernsehgerät aus DDR-Produktion gebeten hatte und zu hören bekam: „Der Farbfernseher, den wir hatten, hat jetzt gerade seinen Geist aufgegeben.“ Was weiß der Westen schon davon, dass in Abgrenzung zum Westen alles bunt sein musste und farbig nicht. An der Frage nach einem Buntfilm, wird dem Westdeutschen sprachethnologisch erläutert, erkennt man den Ostdeutschen. (Wobei ethnologisch offen bleibt, wieso Nina Hagen forsch beklagen konnte: „Du hast den Farbfilm vergessen!“)

Auch Kaufmann sagte: „Der Satz, den wir am meisten hörten, war: 'Das haben wir gerade weggeschmissen.‘“ Was da schließlich doch zusammengetragen werden konnte, ist versöhnlich komplett. Versöhnend, weil es seinen Grund haben muss, dass viele Ausstellungsbesuchende mit Tränen in den Augen als Kommentar nur dies sagen: „Sehen Sie sich das an, das war unser Leben.“ Und vollständig, weil auch dem Westler nahe gebracht werden kann, was er nicht versteht: Die DDR hat auch so etwas wie Stolz hervorgebracht, materialisiert in ihren selbst gefertigten Produkten, so unmodisch sie im Vergleich mit dem lichteren Westen sich auch ausnahmen – was ja auch nur ein Blick aus dem Westen ist.

Kaufmann und seine Leute scheinen souverän genug, die ästhetische Epoche aus Plaste und Elaste, aus Platte und Pappe für momentan noch unbewertbar zu halten. „Auch der Wert der Gründerzeit hat sich erst Jahrzehnte nach ihrem Ende erschlossen.“ Nun muss offen bleiben, ob die Plaste & Elaste irgendwann einmal der letzte Schrei sein wird. Erfrischend an der Bemerkung ist, dass in ihr keine Büßermentalität vorhanden scheint: Furchtbar, wie billig! Nein, anders als viele andere Stadtmuseen in den fünf neuen Bundesländern stellt sich das Leipziger Haus der Vergangenheit, vor allem der aktuellen, und beschränkt sich nicht darauf, ideologisch unverdächtige Preziosen aus der Zeit vor 1933 zu sammeln. Wobei Volker Rodekamp, aus der alten Bundesrepublik stammender Direktor dieses Museums, einräumte: „Objektivität scheint schwer möglich.“

Ein unnötiger Hinweis, denn selbst Expositionen zu einem historischen Ereignis von vor, sagen wir: zweihundert Jahren, fallen von Jahrzehnt zu Jahrzehnt anders akzentuiert aus. Der Satz ist womöglich vorauseilend artig gemeint und gegen eine Kritik gerichtet, die in der Ausstellung nichts als Verklärung entdecken mögen könnte. Denn die dreizehn Abschnitte überlassen die Besucher weitgehend sich selbst. Keine Belehrungen über das Joch der Unfreiheit, das das „Wir sind ein Volk“-Volk hinter sich gelassen hat. Im Gegenteil, eine Erinnerungsrevue, die allen die Chance lässt, etwas zu sehen, was im offiziösen Sprechen über den realen Sozialismus immer verloren geht: dass es einen Alltag abseits des Totalitären gab, einen, in dem nicht jeder zum Schwein werden musste, um über die Runden zu kommen.

Gleich der erste Abschnitt ist überschrieben mit dem abgewandelten Zitat der alternativen Friedensbewegung der DDR: „Ruinen schaffen ohne Waffen“. Der zweite widmet sich den Kinderhorten und den Frauen, die dort ihre Kinder lassen konnten, um am Produktionsprozess teilnehmen zu können. In der Mitte der Ausstellung ist neben einem gruselnd spießigen Wohnzimmer in einer WBS-70 in Leipzig-Grünau (volkstümlich: die begehrte „Platte“) eine „Nasszelle“ samt Armaturen mit zwei Ventilen zu sehen, daneben ein Originalschlafzimmer mit einem Doppelbett, das mehr über die Geschlechter- und Familienpolitik der DDR sagt als viele schriftliche Abhandlungen. An den Wänden sind vergrößerte Zeitungsausschnitte nachzulesen, auch Kontaktanzeigen. Anders als im Westen wird sexuelle Treue begehrt, von den Männern, aber auch von den Frauen.

In einer der hinteren Ecken ist in Dokumenten die Biografie eines während seiner Jugendzeit dem Staat anhänglichen Mannes nachzulesen, dem das Studium verweigert wird, weil er Verwandte in der Bundesrepublik hat und nicht in die Partei eintreten will. Über vier Jahre zieht sich sein Kampf um die Ausreise aus der DDR hin. Jeder kann erahnen, dass es vor allem solche Menschen wie er waren, die faktisch das Glaubensprojekt „Sozialismus auf deutschem Boden“ zur Erosion gebracht haben; solche, die gründlich lernen mussten, dass der reale Sozialismus nichts mit Lebensfreude, sondern mehr mit Enttäuschung und Gängelung zu tun hatte. Vielmehr immer mit dem Gefühl verbunden war, betrogen zu werden. Um bessere Güter, um Produkte, qualitativ gute zumal, auch. Um die Chance, mehr aus einem Leben zu machen, als lediglich darauf zu warten, endlich ein Automobil sich leisten zu können, ohne dass die Westverwandtschaft das Geld gönnerhaft beisteuert.

Insgesamt wirken die Interieurs nur in einer Hinsicht obskur: In den ausgestellten Parolen, in der rigide geforderten Demonstration von Fortschritt und Triumph. Das wirkt erst heute komisch, in einer Gesellschaft, der eine Gesamtmoral fern liegt, und eine Theologie des Alltags sowieso. Gerade weil die Ausstellung erklärterweise dazu einlädt, über die hohlen Parolen der früheren Gesellschaft auch zu lachen, über die aufgetriedelte Munterkeit der Parteisprüche zu schmunzeln („Wir Mütter unterstützen die Friedenspolitik der SED für eine sichere Zukunft unserer Kinder!“), ist sie politischer, geschichtszugänglicher als beispielsweise postume Reden über Stasi und Stasi und Stasi.

Denn ganz unabhängig von der Staatssicherheit und ihrer privat funktionierenden Terrorinstrumente wurde die DDR von vielen Menschen als System der Willkür und der magenzersetzenden Anpassung empfunden. Vielleicht ist es kein Zufall, dass eine solche Ausstellung in Leipzig probiert wird. Von hier aus begann der Protest gegen das Regime, hier wurde von einer Frau der Satz formuliert: „Ich habe Leipzig gehasst. Die Stadt war ein stinkender, fallen gelassener, verbeulter, ausgewohnter Käfig. Wer hier dennoch nistete, betrachtete die Kapitulation als sein Lebenswerk.“ Die Bürgerrechtsbewegung war insofern nichts als eine Revolte gegen die mutwillige Vergammelung der Stadt, gegen die Gräue im Stadtbild.

Neuer Protest wird in diesem Sinne nicht zu fürchten sein. Das altstädtische Ensemble wirkt immer herausgeputzter, die Barock- und Bürgerhäuser sind astrein restauriert, sogar Menschen, und nicht nur reiche, wohnen in ihnen. Die Kneipen um die Nikolaikirche, um den Platz am Alten Rathaus sind Abend für Abend gefüllt. Leipzig hat wieder ein schönes Gesicht, und seine Bewohner gucken es gerne an. Nichts geht mehr seinen sozialistischen Gang, und Buntfernsehen sagt auch keiner mehr, weil es Schwarzweißgeräte nur noch selten gibt. Vielleicht fällt es gerade in einer prosperierenden Kommune wie Leipzig leicht, sich mit der jüngeren Vergangenheit, mit Dederonbeuteln und verpassten Ausbildungschancen auszusöhnen.

„Es geht seinen Gang. Leipzig 1979 – 1989“. Bis 27. 2. 2000, Stadtmuseum Leipzig Altes Rathaus (Di. 14 bis 20 Uhr, Mi. bis So. und Feiertage 10 bis 18 Uhr). Eintritt 5 Mark, Infos unter Tel. & Fax (03 41) 9 65 13 60 (Ursula Oehme). Schulführungen möglich und erwünscht.

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