: Die nette alte Dame, die Stalins Bombe liebte
■ Großbritannien erlebt Enthüllungen in Serie über bisher unentdeckte KGB-Agenten
Berlin (taz) – Der Kommunismus lebt. Das erfährt dieser Tage die britische Öffentlichkeit angesichts immer neuer Enthüllungen über bisher unentdeckte britische KGB-Agenten. Die Reaktionen schwanken zwischen Erschrecken und Bewunderung. Ist nicht Melitta Norwood (87), die nach Expertenschätzungen kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eine Zeit lang die wichtigste Agentin der Sowjetunion im britischen Atomwaffenprogramm war, eine nette alte Dame? „Ich bin 87, und leider ist mein Gedächtnis nicht das, was es war“, erklärt sie der Weltpresse im Garten ihres Reihenhauses in Südlondon ganz cool.
Am selben Tag hat die Times gemeldet, Melitta Norwood habe in den 30er- und 40er-Jahren aus England für Stalin spioniert und Informationen geliefert, die es der Sowjetunion ermöglichten, bereits 1949 die Atombombe zu bauen, statt bis 1954 daran arbeiten zu müssen, wie der Westen damals noch schätzte. Anders als ihre männlichen Kollegen wurde sie nie enttarnt.
Neue Enthüllungen werden jetzt täglich folgen, denn die Times bringt als Serie einen Vorabdruck aus dem Buch The Mitrokhin Archive: The KGB in Europe and the West. Der Autor, Vasili Mitrokhin (77), war früher Archivar im KGB und kopierte abends heimlich Akten – zehn Jahre lang, bis zu seiner Pensionierung 1985. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion trug er seine Sammlung zum CIA. Der fand das Material uninteressant, und so ging Mitrokhin weiter zu den Briten. Die griffen zu und schmuggelten den Russen und sechs Kisten Akten 1992 nach England, wo er seitdem an einer geheimen Adresse lebt – er fürchtet die Rache seiner noch aktiven russischen Kollegen. Das Material umfasst Aktivitäten des sowjetischen Geheimdienstes von 1917 bis 1985. Nun kommt es aufgrund Mitrokhins Buch und eines weiteren Buches eines Cambridger Historikers an die Öffentlichkeit.
Soll man nun die 87-jährige Melitta Norwood vor Gericht stellen? Die Konservativen sagen Ja und verweisen auf den 83-jährigen General Pinochet, der in Großbritannien in Hausarrest sitzt. Labour sagt Nein, will aber einen Bericht des britischen Geheimdienstes.
Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass die sowjetische Penetration Großbritanniens noch ein wenig tiefer ging als bisher bekannt. Spionage für Moskau war seit den 30er-Jahren eine beliebte Freizeitbeschäftigung linksgerichteter englischer Idealisten. Aber auch Großbritanniens mittlerweile eingegangene Kommunistische Partei war ein Kaderverein und eine KGB-Front; sie zehrte erfolgreich von der Sympathie für Stalin, die die Briten während des Zweiten Weltkrieges kultiviert hatten. Viele ehrenhafte Briten, ansonsten völlig bürgerlich und konventionell, widmeten sich nach dem Krieg inbrünstig dem Kommunismus, so wie andere ihre Kirchengemeinde am Leben hielten. Über die Kriegsgeneration ging dieser Enthusiasmus nie hinaus, und seine Träger sind heute steinalt.
An Melitta Norwood fiel ihren Nachbarn nie etwas auf. Nur der Zeitungshändler an der Ecke erzählte, sie habe treu jeden Tag zwei Exemplare des ehemaligen kommunistischen Parteiorgans Morning Star gekauft – so, wie das Blatt es seinen wenigen Lesern als Mittel zur Verdoppelung der Auflage immer empfiehlt. Samstags seien es sogar 32 Exemplare gewesen. Die habe sie dann in der Nachbarschaft verteilt. Der Kommunismus lebt. Dominic Johnson
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