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Zivilgesellschaft im Aufbruch

Inzwischen werden in der Türkei keine Politiker mehr beschimpft: Man erwartet nichts mehr von ihnen. „Krisentische“ kümmern sich um die Erdbebenopfer    ■ Aus Istanbul Jürgen Gottschlich

In Halidere organisierten Freiwillige eine Großküche, in der sich bald nicht nur die Erdbebenopfer, sondern auch die Polizisten verköstigten

Etwas verlegen schaut Herr Kutan schon aus, wie er da neben seinem schweren Mercedes steht und auf die Massen wartet. Ungefähr 30 Leute haben sich eingefunden, mehr werden es auch nicht. Eher desinteressiert schauen sie auf den Mann aus Ankara – noch nicht einmal beschimpfen mögen sie ihn. Mittlerweile erwartet man hier nichts mehr von den Parteiführern, und Recai Kutan, der Chef der türkischen Islamisten und Vorsitzender der größten Oppositionsfraktion im türkischen Parlament, hat außer ein paar warmen Worten auch nichts anzubieten. So dankt er denn den vielen freiwilligen Helfern, die ganz ohne ihn und seine Fazilet-Partei oder irgendeine andere staatliche Organisation hier nach Halidere gekommen sind und von sich aus für das Notwendigste gesorgt haben. Der Auftritt dauert keine zehn Minuten, dann rollt die schwere schwarze Limousine langsam vom zerstörten Marktplatz in Halidere in Richtung Stadtausgang.

Serkan, ein Architekt aus Istanbul, schüttelt etwas ratlos den Kopf. „Was wollte der bloß hier?“ Vielleicht hatte sich Kutan gerade in Halidere einen wärmeren Empfang versprochen, wird die Kommune doch von seinen Leuten regiert. Doch noch nicht einmal Adnan Küçüközer, der Bürgermeister, ist gekommen, um seinen Parteichef zu empfangen. Er musste in der Nachbarstadt an einer Sitzung des Koordinationsstabes teilnehmen, in dem die Verteilung von Hilfsmaßnahmen besprochen und die dringendsten Sofortmaßnahmen für die Versorgung der zerstörten Region diskutiert werden.

Die Arbeit hier in Halidere wird an einem sogenannten Krisentisch koordiniert, direkt vor dem Rathaus, das vom Erdbeben stark beschädigt wurde. Der „Krisentisch“ besteht aus mehreren zusammengeschobenen Campingtischen, einer provisorisch verlegten Telefonleitung und einer HiFi-Anlage, über deren Lautsprecher zu Sitzungen gerufen oder nach bestimmten Leuten gesucht wird. Um den Campingtisch drängt sich eine bunte Truppe. Neben einem bärtigen Islamisten steht da ein ehemaliger Maoist aus Istanbul, Studenten der Istanbuler Universität sind hergekommen und ein paar Soldaten, auch Angestellte der Stadtverwaltung haben sich eingefunden. Die Atmosphäre erinnert sehr an die Hochzeit der „Runden Tische“ in den letzten Monaten der DDR. Alle sind hochmotiviert, hierarchische Verhältnisse sind außer Kraft gesetzt, es wird problemorientiert diskutiert.

Halidere liegt ungefähr zehn Kilometer vom größeren Gölçük entfernt, das durch das Beben bekannt wurde. Der Ort ist ein plastisches Beispiel für ein Phänomen, das seit der Katastrophe vor zwei Wochen allenthalben zu beobachten ist. Als Staat, Regierung undArmee noch Tage nach dem Beben durch Abwesenheit glänzten, schlug die Stunde der zivilen Gesellschaft. Zuerst aus der schieren Not heraus, aber dann mit wachsendem Selbstbewusstsein begannen die Leute selbst nach Wegen aus dem Desaster zu suchen. Unterstützt von außerordentlicher Anteilnahme und materieller Hilfe aus dem In-und Ausland, sorgten spontan gebildete Komitees in den betroffenen Orten dafür, dass die Betroffenen Wasser, Lebensmittel und Kleidung erhielten. In Halidere organisierten Freiwillige aus Istanbul eine Großküche, in der sich bald nicht nur obdachlose Erdbebenopfer, sondern auch die Polizisten verköstigten. Ärzte aus Istanbul kümmerten sich gemeinsam mit Medizinern aus Spanien um Verletzte, Vertreter der Anwaltskammer stellten neben dem Rathaus einen Tisch auf, an dem Betroffene Anzeigen gegen Baufirmen einreichen konnten, und eigens angereiste Architekten hatten bereits wenige Tage nach dem Beben die Anlage von Zeltplätzen zwischen den Obstgärten oberhalb des Städtchens geplant. Auf diese Vorarbeiten stützte sich später die Armee, die zusammen mit Marines der 6. US-Flotte, die zur Unterstützung in den Golf von Izmit geschickt worden waren, Flächen planierte und große Zelte aufbaute.

Während etliche Freiwillige direkt in die Krisengebiete fuhren, richteten andere im Istanbuler Stadtteil Beyoglu einen zivilen Krisenstab für eine landesweite Koordination ein. In einer kleinen Nebenstraße der Flaniermeile Istiklal Caddesi klebt an einer Haustür ein fotokopiertes Blatt mit der Aufschrift „Sivil Koordinasyion Merkezi“. Im vierten Stock des Gebäudes, dem Sitz mehrerer NGOs, herrscht ein geschäftiges Durcheinander. Im Versammlungssaal sind Computer aufgebaut und ein paar zusätzliche Telefonleitungen installiert worden. „Es war wirklich fantastisch“, erinnert sich Orhan Eser, der im Koordinationszentrum mitarbeitet. „Ich habe noch nie erlebt, dass so viele verschiedene Leute so schnell und so effektiv miteinander arbeiten. Keine Fensterreden, keine Eitelkeiten, niemand hat sich gespreizt.“

In wenigen Tagen entwickelte sich die „Sivil Koordinasyion“ zu einer landesweiten Anlaufstelle für alle, die Hilfe oder Unterstützung anbieten wollten und bei den staatlichen Stellen keine Ansprechpartner fanden. „Wir haben den Leuten gesagt, wo was gebraucht wird, und auch Transportmittel für sie besorgt. Die Leute vor Ort haben bei uns angerufen und durchgegeben, was am meisten fehlt.“

Mittlerweile hat sich die Arbeit in der Koordinationsstelle etwas geändert. Die Vermittlung unmittelbar benötigter Hilfsmittel nimmt ab, es wird mehr über die Probleme der kommenden Monate diskutiert. Eine Gruppe von rund 30 Leuten hat sich als fester Kern etabliert und entwickelt nun längerfristige Projekte: ein Zeltdorf für Mütter und Kinder, die die Männer der Familie verloren haben, aber auch erste Pläne für den Wiederaufbau der zerstörten Städte. „Wir wollen, dass sowohl die Betroffenen in den Wiederaufbau mit einbezogen werden als auch Experten, die nicht aus der Bürokratie kommen.“

Das Erdbeben hat in der Türkei eine breite Debatte über das Verhältnis von Staat und ziviler Gesellschaft in Gang gesetzt. Diese Diskussion ist nicht auf die Istanbuler Alternativszene beschränkt, sondern erstreckt sich bis an die Spitze großer Konzerne. Ishak Alaton, einer der bekanntesten türkischen Industriellen, stellte nach dem Beben nüchtern fest: „In der Stunde der Not sahen die Leute, dass der Staat nackt war. Alle Katastrophenpläne standen nur auf dem Papier. Das Vertrauen in den Vater Staat ist wie weggewischt.“

Deshalb scheuen jetzt viele davor zurück, Spenden für den Wiederaufbau an staatliche Stellen zu überweisen. Die Zivile Koordination hilft Leuten, die Geld oder Know-how zur Verfügung stellen wollen, Projekte vor Ort zu finden, wo sie ihr Wissen oder ihre Mittel sinnvoll einsetzen können. Auch Spender aus dem Ausland können sich an diese Koordinationsstelle wenden.

Adresse: Gazeteci Erol Dernek Sok. 11/4, Hanif Han 80 060 Beyoglu Istanbul Turkey

Telefon 0090 - 212-2455602/03 Fax 2455604

E-Mail interreldepremsg.orgwebsite www.depremsg.org

Für Leute, die die Arbeit des Koordinationsbüros unterstützen wollen, gibt es in Deutschland ein Konto: Orhan Eser, Stichwort „IYD“, Commerzbank München, Kontonummer: 443923800, Bankleitzahl: 700 400 41

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