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Neue Chefanklägerin in Den Haag

Die Schweizerin Carla del Ponte trat gestern ihr Amt beim UNO-Tribunal an. Geheime Haftbefehle und Überwindung politischer Blockaden    ■ Aus Genf Andreas Zumach

Beim Internationalen Kriegsverbrecher-Tribunal für Ex-Jugoslawien (ICTY) in Den Haag hat gestern die Schweizerin Carla del Ponte den Posten der Chefanklägerin übernommen. Durch forsches Auftreten, einige spektakuläre Festnahmen sowie raue Verhörmethoden hatte sich del Ponte in den letzten Jahren als Generalstaatsanwältin den Ruf einer entschlossenen und couragierten Kämpferin gegen Mafia, Drogenhandel, Geldwäsche und Korruption erworben – vor allem im Ausland allerdings. Viele eidgenössische KritikerInnen werfen del Ponte hingegen vorschnellen Aktivismus vor. Tatsächlich führten ihre zahlreichen Ermittlungen nur in einem einzigen Fall zu einem Gerichtsverfahren.

In Den Haag findet del Ponte deutlich bessere Arbeitsbedingungen vor als ihre kanadische Vorgängerin Louise Arbour, die am 1. Oktober 1996 ihr Amt angetreten hatte. Bei der Institution, die im Frühjahr 1994 vom UNO-Sicherheitsrat eingesetzt worden war, arbeiteten damals lediglich knapp 40 hauptamtliche Staatsanwälte und Ermittler. Inzwischen sind es 75. Darüber hinaus werden weitere rund 600 Experten (Juristen, Gerichtsmediziner etc.) punktuell in der Den Haager Zentrale oder bei Untersuchungen vor Ort – derzeit vor allem im Kosovo – eingesetzt. Das aus dem New Yorker UNO-Haushalt finanzierte Jahresbudget des Tribunals stieg seit 1996 von 34 Millionen US-Dollar auf 100 Millionen.

Die wichtigste Entwicklung, an der sich die Effizienz des Tribunals ablesen lässt: Als Arbour im Herbst 96 den ersten Chefankläger, Richard Goldstone aus Südafrika, ablöste, hatte das Tribunal Anklagen gegen 74 Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien erhoben. Davon befanden sich lediglich sieben in Gewahrsam des Tribunals. Heute sitzen 22 Angeklagte im Untersuchungsgefängnis des Tribunals. Sieben Verfahren wurden bislang in erster Instanz mit einem Urteil abgeschlossen.

Vor allem mit dem Rückgriff auf das Instrument der verdeckten Anklage hatte sich Arbour den Ruf als zielstrebige und entschlossene Chefanklägerin erworben. Mit Hilfe dieses Instruments gelang seit Anfang 1997 die Festnahme einer Reihe von Personen, die sich – insbesondersein der serbischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowinas sowie in Kroatien – allzu sicher fühlten.

Mit den geheimen Anklagen und Haftbefehlen konnte Arbour die „Blockade bei den Festnahmen“ ein Stück weit aufweichen, völlig durchbrechen konnte sie sie freilich nicht. Verantwortlich für diese Blockade macht die bisherige Chefanklägerin in erster Linie diejenigen Staaten, die die „Kooperation“ mit dem Tribunal, zu der sie der Gründungsbeschluss des UNO-Sicherheitsrates völkerrechtlich verbindlich verpflichtet, verweigern. Der „hoffnungsloseste Fall“ sei Restjugoslawien (Serbien/Montenegro), erklärte Arbour in einem Interview anlässlich ihres Abschieds vom Tribunal.

In dem Interview moniert Arbour aber auch die bislang mangelnde Bereitschaft des UNO-Sicherheitsrates, die „Kooperation“ von Staaten und Regierungen mit dem Tribunal notfalls mit Sanktionen zu erzwingen.

Trotz aller häufig proklamierten „Unabhängigkeit“ des Tribunals waren Arbour und ihr Vorgänger Goldstone in den letzten Jahren immer wieder mit den politisch-strategischen Interessen der USA und anderer wichtiger UNO-Staaten konfrontiert. Diese Erfahrung wird auch del Ponte machen. Dabei steht sie unter erhöhtem Druck: Die während des Kosovo-Krieges erhobene Anklage gegen Slobodan Miloševic hat hohe Erwartungen geweckt.

Doch die konsequente Strafverfolgung von Miloševic, Franjo Tudjman und anderen führenden Politikern und Militärs stößt immer noch auf erhebliche Widerstände, namentlich bei den Regierungen, die darin eine Gefahr für die „Stabilität“ auf dem Balkan oder für das Dayton-Abkommen sehen. Darüber hinaus könnten der Auftritt Miloševic' und Tudjmans vor den Schranken des Den Haager Tribunals so manche hochnotpeinliche Absprache mit den genannten Regierungen ans Licht fördern und so manchen Vorgang aus den letzten acht Jahren der jugoslawischen Zerfallskriege in einem völlig neuen Licht erscheinen lassen.

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