: Der Erich ist schuld
■ Haushaltsdebatte: Unter Kohl wurden 80 Prozent der Staatsschuld angehäuft. 1,5 Billionen Mark. Die Union will davon nichts mehr wissen
Berlin (taz) – Dieser junge Mann ist also die gefährlichste Waffe der Konservativen im Bundestag. Friedrich Merz, 43 Jahre alt, ist aufgerufen, die historische „Schluss mit den Schulden“-Rede des Bundesfinanzministers zu zerpflücken. Der Zahlenjongleur der Unionsfraktion aber wendet sich, kaum am Rednerpult, dem Kanzler zu. „Die Menschen“, sagt der einst als bester Jungredner ausgezeichnete Merz zu Gerhard Schröder, „haben von Ihrer Politik und vor allem von Ihrem Auftreten, Herr Bundeskanzler, die Nase gestrichen voll.“
Applaus, Raunen, entzückte Aufschreie brausen durch die Abgeordnetenreihen der CDU/CSU. Die Redeschlacht um den Haushalt für das Jahr 2000 ist eröffnet: Um 30 Milliarden Mark haben die Minister von Rot-Grün ihre ursprünglichen Etatansätze nach unten korrigiert. Mehr wurde nie gekürzt in der Geschichte der Bundesrepublik.
Draußen vor der Tür windet sich derweil eine Besucherschlange über die Westtreppe des Reichstages. Zufällig ist sie hier, sagt Heide von Münchhausen. Um den Reichstag zu besichtigen. – Über was reden die Abgeordneten heute? – Wir wollen nur auf die Kuppel, gibt sie zurück. Ach ja, da fällt es ihr wieder ein: die Spargesetze.
Können Sozialdemokraten etwa doch mit Geld umgehen? Finanzminister Hans Eichel müht sich redlich, das neue Image seiner Partei plausibel zu machen. Ohne seinen Tritt auf die Kreditbremse hätte der Bund 80 Milliarden Mark frischer Schulden aufnehmen müssen, referiert Eichel. Jetzt kommen „nur“ knapp 50 Milliarden Mark neuer Verbindlichkeiten für das Jahr 2000 hinzu. Zusätzlich zu den 1,5 Billionen Mark an Miesen, für die Eichel bereits jetzt Zinsen zahlen muss. 1982, als Helmut Kohl die Regierungsgeschäfte übernahm, lag der Schuldenstand bei rund 350 Milliarden Mark. „Woher kommt eigentlich die Mär“, fragt der Finanzminister, „dass die deutschen Konservativen mit Geld umgehen können?“
Von der Reichstagstreppe zum Beispiel. Dort ist klar, wer für die roten Zahlen verantwortlich ist: „Der Lafontaine war schuld“, meint eine Urlauberin. Rot-Grün – „das ist doch ein Chaotenladen. Wir haben das in Münster erlebt.“
Noch besser weiß es Friedrich Merz. Der Steuerexperte der Union berichtet den Abgeordneten, „dass ich mir die Haushaltspolitik seit 1949 angesehen habe“. Ergebnis: Von 1949 bis 1969 hätten Schulden praktisch keine Rolle gespielt. Dann hätten die Sozialdemokraten bis 1982 regiert. Der SPD-Kanzler Helmut Schmidt, so soll die Botschaft lauten, trägt die „eigentliche Verantwortung“ für das Schuldenmachen. Aber Schmidt ist nicht etwa alleine schuld. Nein, Merz macht ein staatsmännisches Gesicht und einen Sprung über die ersten paar Kohl-Jahre (1982 – 990) – um bei Erich Honecker zu landen. Bei dem Rhetor Merz heißt das negativ: die finanzielle Hinterlassenschaft des Staatssozialismus. Oder positiv: Es ist der Regierung Kohl gelungen, „einen großen Teil der Erblasten in eine geordnete Finanzpolitik zu überführen“.
Jetzt hält es die älteren Herren in der ersten Reihe der SPD-Fraktion nicht mehr auf ihren Stühlen. „Sie lügen nämlich hier“, ruft ein SPDler mit hochrotem Kopf zum Rednerpult. Friedrich Merz lächelt nun das erste Mal. Macht eine Pause. Grient. Und pickt sich unter höhnischem Gelächter der Union Joachim Poß heraus, den finanzpolitischen Sprecher der SPD. Ja, er habe auch die Ergebnisse des Poßschen Wahlkreises „genau studiert“, prustet es aus Friedrich Merz heraus: 14,1 Prozent habe die SPD in Gelsenkirchen eingebüßt. Und sogar 20 Prozent, wenn man die letzte Bundestagswahl im September 1998 zugrunde lege. „So viel zur Überzeugungskraft des Kollegen Poß.“
Ja, auch auf der Reichstagstreppe gibt es Anhänger für einen Konsolidierungskurs. „Ich bin schon der Meinung, dass gespart werden muss“, wiegt Marlies Schmitt aus Berlin mit dem Kopf. „Die Frage ist nur, wo.“ Und ihr Mann glaubt zu wissen, wo Rot-Grün kürzt: Bei den Rentnern, beim öffentlichen Dienst, „ganz allgemein bei den kleinen Leuten“.
Der Kollege Poß steht inzwischen schon vor seiner Abgeordnetenbank im Plenum. Tippelt unruhig, um zum Rednerpult zu stürmen. Um der gefährlichsten Waffe der Union „eloquente Blasiertheit“ vorzuwerfen. Um der Union vorzuhalten, „dass Sie sich versündigt haben am Zusammenwachsen von Ost und West, weil Sie 1990 falsche Versprechungen gemacht haben“. Um Friedrich Merz dafür zu schelten, „dass Sie die Schulden und den Scherbenhaufen wegdefinieren wollen“, die unter Helmut Kohl auf Billionenhöhe aufgehäuft wurden. Joachim Poß ist in Fahrt. Er erhält tosenden Beifall von seiner Fraktion, und Friedrich Merz wird jetzt bald das Plenum verlassen.
Draußen auf der Treppe, da hört keiner den Finanzexperten der SPD. Wie viele Nullen hat eigentlich eine Billion? Die Frau auf dem Weg zur Reichstagskuppel hält inne: Neun, oder? Christian Füller
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