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Im Wunderland

■ Humanoide Fabelwesen: Der „Cirque Invisible“ im Zelt der Fliegenden Bauten

Der Mann erinnert entfernt an den abgedrehten „Doc“ aus Zurück in die Zukunft, nur dass er noch schrulliger, noch verrückter und vor allem eins ist: wirklich witzig. Mit dem durchgeknallten Erfinder des Films verbindet ihn ansonsten noch zweierlei: eine Vorliebe für äußerst absurde Konstruktionen und für wilde Frisuren, die aussehen wie gerade nach dem Aufstehen. Bei Jean Baptiste Thierrée weiß man allerdings nie, ob man es nicht mit einer seiner unzähligen Perücken zu tun hat – oder ob sein schlohweißer Schopf nicht auch nur angeklebt ist.

Zusammen mit Victoria Chaplin bildet er den Cirque Invisible, der bis zum 29. Oktober auf dem Platz der Fliegenden Bauten gastiert. Schon 1994 sorgten sie im St.-Pauli-Theater für Begeisterungsstürme, was nun bei der Premiere im blauen Zelt nicht anders war. Das zweiköpfige Familienunternehmen zeichnet sich aus durch einen schier unerschöpflichen Ideenreichtum – man fragt sich immerzu, wie es bei diesen humanoiden Fabelwesen wohl zu Hause abgeht.

Thierrée ist wahrlich ein komischer Kauz: In seinem Gesicht leuchten Apfelbäckchen, und aus seinen Augen sprüht einem permanent die Vorfreude auf den nächsten Spaß entgegen. Victoria Chaplin, die jüngste Tochter Charlies, mutet nicht minder seltsam an: wie ein verschrecktes Mädchens mit ihren weit aufgerissenen Bambi-Augen, was sich bei der klassischen Säge-Nummer ungeheuer effektvoll ausnimmt.

In ihrem schmalen Gesicht spiegelt sich das ungläubige Staunen in Anbetracht unserer Welt, in die sie versehentlich aus ihrem Feenreich hineinkatapultiert wurde. Auch bei ihren Verwandlungen verdunstet nie die sie umgebende ästhetische Hülle: Stets leicht abwesend wirkend, führt sie in so fantasievollen wie perfekt durchdachten Kostümen einige Kreaturen ihres Reiches vor.

Die Ähnlichkeit mit Tieren, die auch wir in hiesigen Dimensionen kennen, garantiert Freude durch Wiedererkennen – wenngleich Chaplins grandiose brokatüberzogene Heuschrecke unseren kleinen grünen Hüpfern ohne weiteres den Rang abläuft.

Doch Thierreé sorgt immer wieder für die Rückkehr aus dem Wunderland. Kuststücke, die ihn mittels bierernster Mienen beim Publikum als gebenedeiten Magier dastehen lassen, sind ihm erfrischenderweise fremd. Vielmehr spielt er hemmungslos mit unseren Erwartungen sowie mit dreisten Tricks, die keine sind. Umso mehr schlägt er die Zuschauer in seinen Bann, wenn er dann wirklich zaubert.

Also: Augen auf, Kinnlade runter, rein in den Cirque Invisible.

Liv Heidbüchel

bis 29. Oktober, Di – Do 20.30 Uhr, Simon-von-Utrecht-Str. / Kl. Seilerstr., Kartentel.: 39 90 72 66

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