: Seit hundert Jahren Göre
■ Die wunderbare Brigitte Mira gastiert mit einem Chansonprogramm bei Madame Lothár im Schnoor
Brigitte Mira ging es am Mittwochabend gar nicht gut. Und das sah man der Diseuse und Schauspielerin beim kurzen Interview in der Garderobe des Travesti-Theaters im Schnoor vor dem Schminken auch an. Jeder Arzt hätte die derart verschnupfte und fiebrige 89-Jährige ins Bett geschickt. Aber sie trat selbstverständlich auf und verstrahlte von der Bühne soviel Charme, Energie und Lebensfreude, dass man allein daran schon sehen konnte, was eine große Schauspielerin ausmacht.
„Ich fühle mich am Wohlsten in tragischen Rollen, weil man die Leute viel schneller zum Weinen als zum Lachen bringen kann“, sagte sie im Vorgespräch. Doch eine knappe Stunde später sang sie das Lied von den Damen, die nach „Gen-italien“ reisen, wo „die Matronen glühen“. Da müsste das Publikum im Theater schon bei ihren ersten Sätzen laut schluchzend in Tränen ausbrechen, denn bei ihrer Premiere eines längeren Bremen-Gastspiels hatte die wunderbare Brigitte Mira ihre ZuschauerInnen schon von der ersten Ansage an fest eingewickelt und ließ sie nicht mehr los.
„Ich versuche jedes Chanson eher von der schauspielerischen Seite her als von der gesanglichen zu gestalten“, beschreibt sie ihre Methode, mit der sie bei dem Trioprogramm „Die drei alten Schachteln“ ihre Kolleginnen Helen Vita und Evelyn Künnecke locker an die Wand spielt. Auf der Bühne mischt sie Selbstironie mit spöttischen Publikumsbeschimpfungen. Zu dem kleinen Ansteckmikro an ihrem Dekolleté sagte sie: „Das ist keine Warze, sondern ein Mikrophon.“ Mit ihrer Soubrettenstimme ficht sie sich ihren Weg durch Franz Lehàrs „Vilja-Lied“ und fällt sich dabei selbst dauernd in den Gesang, um den dümmlichen Text zu kommentieren („zum Glück muß ich nicht Vilnein singen“).
Später sucht sie sich den harmlosesten Tropf in der ersten Reihe aus, sieht ihm lange in die Augen und singt ihn dann plötzlich laut an: „Auch Du wirst mich einmal betrügen!“
Das macht sie mit solch einem sicheren Gefühl für den Effekt und die Pointe, dass man vor Bewunderung fast das Lachen vergisst. Und wenn sie zum Schluss hin dann „Die alte Klofrau putzt zum letzten Mal die Brille“ singt, kommt in den Applaus hinein ihre witzige Retourkutsche: „Endlich habe ich ihr Niveau getroffen!“
„Seit hundert Jahren bin ich schon die Berliner Göre“, sagt Brigitte Mira. Und wenn man erlebt hat, wie diese Akteurin ihre Virusinfektion auf der Bühne wegspielte, hat man keinen Zweifel daran, dass sie dieses Jubiläum auch tatsächlich noch feiern wird. Aber trotzdem: Gute Besserung!
Wilfried Hippen
Brigitte Mira tritt tägl. bis zum 25. September um 22.30 Uhr und am Sonntag um 16 Uhr in Madame Lothaárs Travesti-Theater, Kolpingstraße, auf
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen